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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium
Autoren: Michael Tobias
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nicht vorherzusagen. Ein aggressives Tier wäre einige höllische Wochen lang in einem Dämmerzustand gehalten worden. Nur wenige überlebten eine solche Reise, was natürlich den Preis noch weiter nach oben trieb. Seltenheit versprach nun mal einen hohen Profit.
    Simon stellte sich jetzt vor, wie das Nashorn ähnlich wie Hemingways »treuer Stier« ohne die geringste Erfolgschance losstürmte - verwirrt, umzingelt, müde, zu allem entschlossen -, als ob die Wochen, die es eingesperrt in einen engen Container mit wenig Futter und einem Minimum an Flüssigkeit zugebracht hatte, nicht schon schlimm genug gewesen wären.
    Zuerst wäre da der Kälteschock des Wassers in den Augen, in der Kehle und in der Lunge - Wasser, das auf Grund seiner Tiefe sogar in den Sommermonaten eiskalt war. Die Docks im Antwerpener Hafen hatten eine Gesamtlänge von 75 Kilometern und eigneten sich für Schiffe mit hohem Tiefgang. Und die Seeschleusen - ein Labyrinth aus Beton, Stahl, Dämmen, schweren Kränen, Hunderten von Quadratkilometern technischer Anlagen, verankert auf scharfkantigen Plattformen, und tückischen Gegenströmungen - mochten zwar ideal für Supertanker sein und die von ihnen verlangten Funktionen perfekt erfüllen, mit einem einsamen, um viele Tonnen leichteren Rhinozeros würden sie jedoch mit unbarmherziger Härte verfahren. Ströme, die ganz Europa durchschnitten, lieferten durch ein Ästuarium von drei großen Flüssen, der Maas, dem Rhein und der Schelde, sowie des Albert- und des ABC-Kanals perfekte Grundvoraussetzungen für die Anlage eines Hafens. Man konnte schwimmend von Antwerpen bis ins Schwarze Meer gelangen, aber nur theoretisch. Um es praktisch zu versuchen, müsste man lebensmüde sein.
    Es war diese einzigartige Wasserwelt, die Antwerpen zum viertgrößten Hafen der Welt machte, wo alljährlich nahezu 150 Millionen Tonnen Stückgut aus fast drei Dutzend Ländern gelöscht und verladen wurden. Solche Mengen waren für Wildtierschützer ein einziger Albtraum. Aber aus der Perspektive eines Nashorns, das in diesem lebensfeindlichen Labyrinth von Gefahren gefangen war, musste dieses Monster menschlicher Machenschaften schlimmer als ein Albtraum erscheinen. Es bedeutete für das Tier den sicheren Tod, denn da waren die Frachtkähne - 64 000 pro Jahr oder einer alle acht Minuten -, die die 1500 Kilometer belgischer Wasserwege durchpflügten. Ein Frachtkahn würde aus einem strampelnden Rhinozeros im Moment des Zusammenpralls Hackfleisch machen.
    All dies ging Simon blitzartig durch den Kopf. »Es dürfte nicht mehr aufzufinden sein. Es ist tot«, seufzte er traurig. »Was ist mit dem Container? Mit der Schifffahrtsgesellschaft? Gibt oder gab es noch andere Tiere? Ein Nashorn kann man nicht so leicht verstecken. Irgendjemand läuft da draußen unerkannt herum. Jemand, der diese üble Geschichte eingefädelt hat.«
    »So wird es wohl sein«, erwiderte Hubert Mans nervös.
    Simon spürte den wachsenden Druck. Es war keine Zeit zu verlieren. Irgendwo in diesem Hafenlabyrinth waren Verschwörer am Werk, die das System überlistet hatten. Die IW - die Interpol Wildlife Crime Working Group, eine Abteilung zur Verbrechensbekämpfung von Wilderei und illegalem Handel mit geschützten Arten -, die je nach Nation unter verschiedenen Abkürzungen firmierte, konnte den Hafen nicht abriegeln. Er war zu groß, zu verwinkelt - knapp 13 000 Hektar Land, Containerterminals in allen Richtungen, darunter auch die große Zandvliet- und die Berendrecht-Schleuse und, um das Ganze noch zu erschweren, das Deurganck-Dock am linken Ufer, der Left Bank, wie es allgemein genannt wurde.
    Und dann offenbarte Simons Partner schließlich, was er wirklich dachte.
    »Ich glaube nicht, dass es ein Rhinozeros war.«
    Er wusste, was eine solche Andeutung bei seinem Chef um 3 Uhr 33 in der Frühe auslösen würde.
    Während er sich in Gedanken mit dem allzu engen Zeitrahmen und der dringenden Notwendigkeit, Zeugen ausfindig zu machen, herumschlug und außerdem mit einem schweren Kater kämpfte, hatte Simon wenig Lust, sich auch noch den Kopf über ein nicht identifiziertes einfach gehörntes Lebewesen, das biologische Äquivalent eines UFOs, zu zerbrechen. So etwas passierte manchmal. Da war ein Forscher in Afrika, der behauptete, einen lebenden Brontosaurus gesehen zu haben. Und vor einigen Jahren gab es ein amerikanisches Ehepaar, das sicher gewesen war, einen Riesenalk - den wahrscheinlich berühmtesten aller angeblich ausgestorbenen Vögel - an
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