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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium
Autoren: Michael Tobias
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angesiedelt waren. Früher hatten seine Eltern mehr als hundert Charolais gehalten, jene großrahmige, breite weiße Rinderrasse, die mittlerweile auch in vielen anderen Ländern populär war. Ihr Fleisch landete auf den Tellern von Feinschmeckerrestaurants in ganz Burgund im Osten Frankreichs, wo Jean-Baptiste aufgewachsen war, wo aber auch vor Kurzem der fünfzehnte Fall von Rinderwahnsinn verzeichnet wurde, wahrscheinlich ausgelöst durch verunreinigtes Weizenmehl im Futter des betreffenden Rinds, zumindest war das die vorherrschende Annahme. Wirtschaftliche Schwierigkeiten wie auch Arthritis und eine schleichende wirtschaftliche Depression hatten Simons Vater gezwungen, den Gürtel enger zu schnallen. Er hatte die Charolais gegen ein paar Dutzend hormonfreie Jersey-Milchkühe eingetauscht und diese auf einer einzigen 30 Hektar großen Weide, gesäumt von Eichen, Ulmen, Ahornbäumen und Platanen, gehalten und einmal - nicht zweimal - am Tag gemolken.
    Simons Vater, Jacques, war so ganz anders als sein Vater Henri, Jean-Baptistes Großvater - ein Mann, dem die Vorstellung widerstrebte, überhaupt ein Tier zu töten. Er hatte sich sicherlich mit fast jedem Bewohner seines Dorfs gestritten, denn jeder tötete. Es war eine für Frankreich typische Lebensform, eine Tradition, die in hohen Ehren gehalten wurde und das Überleben garantierte.
    So war Henri Simon in das Kloster in Cluny eingetreten und hatte sich einem spirituellen Leben verschrieben. Obgleich Jean-Baptiste noch ein Kind war, als sein Großvater Henri starb, hatte er im Lauf der Jahre genügend Informationen aufgeschnappt, um zu wissen, dass der Vater seines Vaters den Weg der Religion verlassen und sich für ein Leben als fast am Hungertuch nagender Maler entschieden hatte. Dieser rätselhafte Burgunder war fasziniert von Kühen, nicht auf einem Essteller, sondern auf der Leinwand. Er malte im traditionellen Stil alter Nomaden zu einer Zeit, als solche Themen längst unmodern waren. Simon hatte die Gene seines Großvaters geerbt und verzichtete auf Fleisch und Fisch. Er redete nicht darüber, aber seiner Mutter war schon früh aufgefallen, dass ihr einziger Sohn nichts anderes aß als Salat, Früchte und Zerealien. Sie hatte keine ernsthaften Einwände gegen ein solches Verhalten, so ungewöhnlich es ihr für einen echten Franzosen auch vorkommen mochte.
    Letztendlich lebte Jean-Baptiste Simon nach seinen eigenen ethischen Grundsätzen, hatte jedoch auch großes Verständnis für Bauern, von denen er wusste, dass sie zu den arbeitsamsten, intelligentesten und praktischsten Menschen gehörten, die er je kennengelernt hatte. Gute Menschen, die zu oft gezwungen waren, sich in einer sich verändernden Welt der Massentierhaltung und der chemischen Hilfsmittel zurechtfinden zu müssen.
    Die globale Erwärmung verstärkte die Leiden der Bauern. Zwei Sommer zuvor waren elf von den älteren Bewohnern des Dorfs seiner Eltern am Hitzschlag gestorben. Im Jahr davor hatte es nicht aufhören wollen zu regnen. Die Flüsse und Kanäle traten über die Ufer, und die Bauern hatten Schäden zu beklagen, die in die Dollarmillionen gingen. Einige begingen Selbstmord und schossen sich lieber selbst eine Kugel in den Kopf, als ihre Tiere - Kühe, Pferde und Esel - zu töten, die verhungerten oder beinahe ertranken.
    Im gleichen Maße, wie Simon die Geschichte der Landwirtschaft und die Bauern, die er persönlich kannte und mit deren Kindern er die Schulbank gedrückt hatte, respektierte, entwickelte er eine grundsätzliche Abneigung gegen jede Form von Grausamkeit, worüber er niemals mit seinen Eltern gesprochen hatte. Seine geheimen Verbraucher- und Ernährungsgewohnheiten begleiteten ihn in sein Leben als Erwachsener.
    Und es war die Grausamkeit, mit der Menschen mitunter Tiere behandelten - manchmal vorsätzlich, häufig in Gestalt von Jägern, die außerhalb der Schonzeit durch die Wälder streiften, wie auch in Form internationaler Kartelle, die Milliarden von Dollars damit verdienten, vom Aussterben bedrohte oder gefährdete Tierarten zu fangen oder zu töten -, die sein Berufsleben bestimmte, ein Leben, das ihm zunehmend die Kraft raubte. Er war es leid. Leid, für seine ethischen Grundsätze zu kämpfen, leid, gegen Widerstände anzurennen, leid, sich ständig mit die Tierwelt verachtenden Dogmen herumzuschlagen, und er konnte die furchtbare Not der Tiere weltweit nicht mehr mit ansehen, ein Zustand, der sich von Tag zu Tag verschlechterte.
    Obwohl er es schaffte,
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