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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium
Autoren: Michael Tobias
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jede Nacht wenigstens fünf Stunden Schlaf zu bekommen, hatte er die letzten paar Monate der so genannten Operation Blue Wing, die mittlerweile erfolgreich abgeschlossen worden war, nur mithilfe von Espresso mit Kognak, einem Übermaß an Aspirin und zu vielen Antidepressiva überstanden. Ein derartiger Schlafmangel hatte seinen Tribut gefordert, und ein Telefonanruf um halb vier Uhr morgens von seinem Partner und - offiziellen - Stellvertreter hatte eine ausgesprochen unerwünschte Nebenwirkung. In seinem Kopf tobten rasende Schmerzen. Er litt seit Jahren unter Migräneanfällen, die ihren Ursprung in einem besonders empfindlichen seiner Halswirbel hatten, wie man ihm erklärt hatte, aber was er jetzt durchmachte, war die reinste Hölle.
    Ein Nashorn, das ungehindert durch die Straßen von Antwerpen stürmte.
    Das hatte ihm noch gefehlt ...
    Er zog sich an, steckte seine Pistole ins Holster, schnappte sich sein Notizbuch und sein kleines Diktiergerät und verließ die Wohnung.

 
    KAPITEL 4
     
    E in halbes Jahr vorher ...
    Edward Olivier drückte die linke Hand auf die rechte obere Seite seiner Brust, wo vor zehn Minuten eine Gewehrkugel eingedrungen war. Er griff nach der Kette um seinen Hals und umklammerte die kleine silberne ovale Benediktus-Medaille.
    Der Wald war so dicht wie ein tropischer Dschungel, obwohl in Frankreich Winter herrschte. Außerdem regnete es, und es war tiefe Nacht. Der Regen hatte sich mittlerweile in nassen Schnee verwandelt, wie es fast immer um diese Jahreszeit geschah. Die dicke Ranke einer Kletterpflanze umschlang den stolpernden achtundsiebzig Jahre alten Ornithologen, und er spürte, wie die Kette um seinen Hals abgerissen wurde. Er versuchte sich zu bücken, tastete mit den Händen im Unterholz herum, um die Kette aufzuheben. Dabei benutzte er eine kleine Stiftlampe, die er zwischen den Zähnen hielt. Ein Schmerz jagte durch seine Brust, während Krämpfe ihn hochrissen. Sein Atem ging schwer. Unwillkürlich biss er auf die Lampe, sodass einer seiner Zähne splitterte. Die Lampe rutschte aus seinem Mund, und Dunkelheit umfing ihn, während seine Gedanken verblassten, als ...
    Er hörte den fernen Knall eines weiteren Schusses. Fast gleichzeitig bohrte sich eine Kugel in seine Schulter.
    »Es tut mir leid«, flüsterte er und blickte sich um und in die deutlich erkennbaren Augen, die ihn aus dem seit Urzeiten unberührten Wald beobachteten. Er spürte, wie Blut an seinem Arm hinabrann.
    Eine Gruppe großer Huftiere und anderer Kreaturen flüchtete tiefer in den Wald und durch eine Lücke in der alten Mauer in Richtung Hochland. Verfolgt wurden sie von den Rufen einer unvorstellbaren Ansammlung von Vögeln, wie man sie in der Dunkelheit kaum jemals hören konnte. Einige Stimmen erkannte er, den Lundi, die Schnepfe und die Rabenkrähe. Ein Kurzfangsperber schoss aufgeschreckt an ihm vorbei.
    Dann herrschte Stille. Sie sind weg, vermutete Edward. Ich muss unbedingt zurück aufs Grundstück ... Sein Kopf kämpfte um einen klaren Gedanken. Er kannte den Weg auf diesem Teil des Geländes, hatte sich seinen verschlungenen Verlauf genau eingeprägt, kannte jede Falle, jedes Hindernis, jede Vertiefung im Erdboden.
    Als plötzlich eine dritte Salve abgefeuert wurde, bei der es ihm so vorkam, als würde von allen Seiten auf ihn gezielt, stürzte er halb betäubt und ohne einen Laut von sich zu geben in den Morast. Es regnete schon seit mehreren Tagen und Nächten. Ein heftiger Ostwind mit Geschwindigkeiten von neunzig bis hundert Stundenkilometern wehte vom Atlantik und riss reihenweise Bäume um. Er bescherte einigen Regionen heftigen Schneefall. Hier hingegen schneite es weitaus seltener, als man in dieser Höhe erwartet hätte. Gewöhnlich wurden die Berge von einem mistral-warmen Nieseln, heftigen Blitzsalven, dichtem Regen und einer undurchdringlichen Wolkendecke heimgesucht, die es schon so lange gab, wie er sich erinnern konnte, also mindestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Oft herrschte jedoch auch Frost. Im restlichen Frankreich mochte die Sonne scheinen, aber in diesen Bergen, einer einzigartigen seltsamen geologischen Kombination unterschiedlicher Geländeformationen, herrschte ein Mikroklima, das ausgesprochen beständig und dauerhaft war, Mobiltelefone lahmlegte und sich sogar der Satellitenaufklärung entzog. Es hatte sich stets als angenehm gezeigt, aber nicht in dieser Nacht.
    Irgendwie hatten sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet, etwas, das, solange sich
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