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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium
Autoren: Michael Tobias
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entschieden, dass die Kosten, die zur Erhaltung des Châteaus aufgewendet werden müssten, keine unerträgliche Last darstellten. Dreieinhalbtausend Quadratmeter konnten sehr leicht sauber gehalten werden - auch von einem Mann -, und Lance hatte sich in der ganzen Zeit als hervorragender Hausmeister erwiesen. Außerdem war er nicht alleine.
    Angesichts der aus religiösen Gründen erteilten Steuerbefreiung und einer konsequent nicht durchgeführten Waldbewirtschaftung wäre nur wenig Geld nötig, um eines der größten privaten Landgüter in ganz Europa zu unterhalten. Der genügsame, praktische Ökologe, als der Sankt Benedikt sich betätigt hatte, hätte es sicher nicht anders gewollt.
    Margaret war zu Bett gegangen. Anthony saß in seinem spärlich erhellten Zimmer an seinem Computer und googelte Bibliografien und alle möglichen Geheimnisse, die seine Mutter ihm aufgeschrieben hatte. Sie gab nicht auf. Martin saß in der Bibliothek an seinem Schreibtisch und ließ in Gedanken die letzten Tage Revue passieren. Irgendwann nach Mitternacht, er hatte sich soeben ein drittes Glas Sherry eingeschenkt, öffnete er seinen Safe, um einige Dokumente durchzugehen, sein und Margarets Testament, Handlungsvollmachten, Patientenverfügungen. Er suchte irgendetwas. War sich aber nicht sicher, was genau. Und dann kam ihm ein Gedanke, der ihn fast vierzig Jahre in die Vergangenheit zurückführte.
    Er wandte sich um und ließ den Blick über die langen Buchreihen in den Wandregalen wandern. Er war so überwältigt, dass er zu zittern begann.

 
    KAPITEL 54
     
    D a war die Erstausgabe von Alice im Wunderland und der Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln, an die Martin sich in Wien erinnert hatte.
    Er holte den Schuber mit den beiden Büchern hervor, kehrte in seinen gemütlichen Sessel zurück und begann in den Büchern zu blättern, die einen noch fast unberührten Eindruck machten. Es war genau so, wie er es in Erinnerung hatte: das e auf der Titelseite. Zwei Dinge hatte er jedoch völlig vergessen oder übersehen. Das Buch war ein Widmungsexemplar von einem »CL Dodgson« für Martins Urgroßvater mit einer Zeichnung - offensichtlich von John Tenniel - von Daniel Olivier, wie er zusammen mit zwei großen Dodos auf einer Wiese vor dem Château sitzt. Als Erscheinungsjahr war 1865 angegeben. Der rote Ledereinband war mit einer markanten dreifachen goldgeprägten Deckelbordüre verziert, und das himmelblaue Vorsatzpapier besaß eine Beschichtung, die es für die Ewigkeit haltbar machen sollte. So schien es jedenfalls, bis Martin den haarfeinen Schnitt in der hinteren Umschlaginnenseite ertastete, hinter der ein einzelnes Blatt Bibelpapier versteckt worden war.
    Martin zog es vorsichtig heraus. Und las die Worte, die er noch nie gesehen hatte: »Erst lange nach meinem Tod öffnen.«
    Andächtig betrachtete Martin das unendlich dünne Blatt vergilbten Papiers, das mit einer unglaublich winzigen und makellosen Handschrift bedeckt war:
     
Mein lieber Martin,
     
eines Tages wirst du dies lesen, und ich werde an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit sein. Mittlerweile wirst du das Château besucht und seine Bedeutung erkannt haben. Du wirst auch von dem Buch wissen und dank eines bemerkenswerten kleinen Besucherverzeichnisses eine Vorstellung davon haben. Quäl dich nicht mit der Frage herum, wo es versteckt sein könnte, wie dein Onkel James es getan hat. Ich habe mir darüber niemals den Kopf zerbrochen. Wenn unsere Vorfahren so weise waren, wie ich glaube, dann haben sie das kleine Buch ganz gewiss irgendwo im Wald in der Nähe des Ortes versteckt, wo ich wahrscheinlich selbst beerdigt bin, hoch oben in einer trockenen steinzeitlichen Kalksteinhöhle, unweit eines Purpur-Eucalyptus, der höchste auf dem gesamten Besitz und wahrscheinlich auch der größte Baum in ganz Europa. Das nehme ich an, aber es ist wirklich nur eine Vermutung. Solltest du jedoch den Drang verspüren, es dort zu suchen, dann achte darauf, behutsam vorzugehen und die Höhle nur mit einem schwachen Licht zu betreten, das die Insekten, Fledermäuse und zahllosen anderen Tierarten, die nirgendwo sonst anzutreffen sind, nicht in Unruhe versetzt. Trete vorsichtig auf. Störe nicht.
Was die Domäne der Oliviers betrifft, so merke dir eins: Solange dein Herz bedingungslose Liebe verströmt, werden die Tiere noch nicht einmal Notiz von dir nehmen. Oder, wenn du das gleiche Glück hast wie ich, sie werden sich mit dir anfreunden. Sie kennen nichts anderes als
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