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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium
Autoren: Michael Tobias
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Nach der Französischen Revolution verlagerte sich das gesellschaftliche Leben zunehmend nach Paris, Nizza, Montpellier und in andere städtische Zentren. Die Menschen wünschten sich Zerstreuung, keine Braunbären und Wölfe. Sie lechzten nach Nachtclubs, Cafés und, vor allem anderen, nach besseren sanitären Einrichtungen und Bananen zu jeder Jahreszeit. Irgendwie und unfassbar für die modernen Liebhaber ländlichen Lebens waren die großen Châteaus und Prachtbrunnen zu einer immensen Steuerbelastung geworden, die aufgrund ihres Verfalls nur noch Kopfschmerzen verursachten. Die herrschaftlichen Wohnsitze wurden nach und nach von Ratten, Hornissen und anderem Ungeziefer bewohnt, und die Eigentümer konnten nichts tun, um die in großer Zahl anreisenden Jagdgesellschaften aufzuhalten, deren Mitglieder voller Begeisterung widerrechtlich in die Landgüter eindrangen und diese Bilder vom Paradies mit ihren Waffen im wahrsten Sinne des Wortes durchlöcherten.
    In Frankreich hatte Brigitte Bardot jahrelang die Mordlust ihrer Landsleute und der restlichen Welt bekämpft. Aber sie stand auf verlorenem Posten, allenfalls unterstützt von ein paar hundert jungen Vegetariern, zumindest nach Margarets Auffassung.
    Dennoch erschien ihr das gesamte Szenario des Olivier'schen Landsitzes und der Künstler, die dort im Laufe der Jahre heimlich verweilt hatten, derart unglaublich, dass sich, wenn sie es nicht als reines Fantasieprodukt verwerfen wollte, mindestens eine Alternative ergab - nämlich dass alles, was damit in Zusammenhang stand, der Wahrheit entsprach.
     
    Jean-Baptiste Simon stieg nicht in ihre Maschine nach Paris. Schließlich startete schon zwanzig Minuten später eine Maschine nach Genf. Er kannte den Flugplan besser als sie und wusste, welche Schwierigkeiten sie um diese Tageszeit haben würden, auf ihrem Weg nach Burgund über Paris zu fliegen.
    Martin wäre tatsächlich der Flug nach Genf lieber gewesen, da er nun den Weg kannte, auf dem er innerhalb von anderthalb Stunden das Château erreichen konnte. Dummerweise hatte er sich für Paris entschieden, weil sie in der Maschine bessere Sitzplätze buchen konnten.
    Um 17 Uhr 30 saß Simon in der Bibliothek des Châteaus. Die beiden Leichen lagen noch immer in ihren Blutlachen auf dem Fußboden. Sein Anruf bei Le Bon hatte offensichtlich bewirkt, dass das Anwesen mit dem Château nicht weiter unter polizeilicher Beobachtung stand, zumindest vorerst. Kein Absperrband markierte einen Tatort, kein Polizist und kein Streifenwagen waren mehr zu sehen. Kein Anzeichen von Überwachung. Das historische Bauwerk mit seinen umliegenden Gärten und undurchdringlichen Wäldern, seinen weißen Türmen, seiner majestätischen Architektur und der imposanten Fassade erinnerte an einen riesigen Vogel, der abwartend in seinem Nest hockte - bevorzugt, wild und unbehelligt, jedenfalls schien es so.
    Es hatte wieder zu regnen begonnen. Simon glaubte, fernen Donner hören zu können.
    Aber da war neben dem fernen Grollen eines zornigen Himmels noch etwas anderes: ein tiefer an- und abschwellender Laut, halb Jammern, halb Gebrüll. Und dann blickte Simon durch das vielfarbige Licht des bunten Glasfensters auf das Gesicht, dessen Mund diese undefinierbaren Laute in der Nähe der Mauer hervorstieß.
    Ein Elefant oder genauer, wenn Simon sich nicht irrte, ein Wollhaarmammut, das leicht schwankend im Rosengarten stand. Im Gegensatz zum Mastodon waren die Stoßzähne des Mammuts elegant geschwungen, jedenfalls bei diesem Exemplar.
    Er möchte spielen ... Jean-Baptiste Simon starrte die unglaublichste Kreatur an, die er je gesehen hatte. Das Tier blickte durch den strömenden Regen zum Château. Dieser kolossale, erstaunlich sanfte Einzelgänger war erstaunlicherweise vor dem Aussterben bewahrt worden, das sich wie eine Woge über Europa und die ganze restliche Welt ausgebreitet hatte. Die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen waren atemberaubend, aber er war sich nicht sicher, wie sich dieses Wissen auswirken würde, wenn es irgendwann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Würde man vom sprichwörtlichen Geist aus der Flasche sprechen? Die Wissenschaft war dafür berüchtigt, enorme Chancen, Möglichkeiten, Vorteile verstreichen zu lassen oder nicht zu nutzen, weil Wissenschaftler häufig eigene Interessen verfolgten und dabei keine Hemmungen hatten. Um ehrlich zu sein, hätte Jean-Baptiste Simon, ebenso wie sein Großvater, Bedenken, auch nur zu Fuß den Wald zu durchqueren,
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