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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
Autoren: Joan D. Vinge
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glänzenden Augen an. „Wir reisen von Welt zu Welt, aber eigentlich sehen wir sie nie richtig, weil wir immerzu hochschauen müssen. Es ist schön, heute einmal hinabblicken zu dürfen.“
    Sie stiegen höher hügelwärts, bis die zerklüftete olivrote Meeresküste verschwand und von grün-schwarzen, grauen und schließlich blenden weißen Flächen abgelöst wurde.
    „Ist das dort unten wirklich Schnee?“ Sie zupfte ihn am Ärmel und deutete hinab.
    Er nickte. „Ein wenig.“
    „Seit ich Calicho verlassen habe, habe ich nur noch ein einziges Mal Schnee gesehen, das war im Winter auf Treone. Wir haben uns in Pelze und Kapuzen eingemummt, obwohl das eigentlich gar nicht nötig war, und mit den Schwänzen Schneeballschlachten gemacht … Aber auf unserer Insel, auf Calicho, war es die meiste Zeit über kalt – wir lebten weit im Norden und bauten eine spezielle Getreidesorte an … und wir Kinder hatten haarige Horntiere, auf denen wir reiten konnten …“ Gefesselt von ihrer Erinnerung lehnte sie sich an ihn, während er versuchte, sich an Glatte zu erinnern. Aus schneebedeckten Hängen wurden blendend weiße Klippen, die aus dem Meer ragten.
    Sie hatten das Massiv überwunden, die zerklüfteten Felsnadeln wurden flacher und verwandelten sich schließlich in Hänge mit überdimensionalem Geröll. Vor ihnen breitete sich die endlose Ausdehnung der gelblichen Einsamkeit aus. „Wie lange geht das so?“
    „Endlos … Diese Wüste vielleicht nicht, aber diese mündet in eine andere, die wieder in eine andere mündet, und so weiter – der ganze Planet ist eine Wüste, heiß oder kalt. Er trocknet bereits seit Äonen aus, die Sonne brennt so heiß herunter, was die meiste Zeit des Jahres der Fall ist. Das Meer bei Neu Piräus ist die einzige größere Wassermasse, die noch übriggeblieben ist, und der Pegelstand ist seit meiner Anwesenheit hier auch schon wieder einen Zentimeter gefallen. Die Küste ist das einzige bewohnbare Gebiet, und nicht einmal hier sind viele Städte.“
    „Dann wird Oro sich ja niemals sehr verändern können.“
    „Nur so viel, daß es schmerzt. Siehst du den Staub? Siebzig Kilometer nördlich wird über Tage geschürft. Und das ist noch eine kleine Zeche.“
    Er flog südlich über das erodierte Antlitz des Landes, über gewundene Täler aufgefalteter Felsen, über Sedimente, die von den gnadenlosen Händen tektonischer Kräfte geformt worden waren. Oder er flog über einsame und verlassene Ebenen voller tückischer Treibsandtümpel.
    Schließlich landeten sie unter einer Ausbuchtung roter und grüner, von Fresken überzogener Felsen. Das ausgedehnte, grobe Bett aus Sand und Abschlämmungen war bleich unter dem kalten Atem des Nachmittags und knirschte beim Gehen unter ihren Füßen. Nachdem er seine Lederjacke angezogen hatte, zeigte Maris ihr das Kaleidoskop der Zeitalter, das schutzlos dem kalten Wind ausgeliefert war, der über die Hügel strich, auf denen sie kletterten und dem Wind entgegenschrien. Sie nahm die Versteinerungen verwundert in die Hände, ihr Haar wehte wie ein silbernes Banner um ihr Gesicht. Er verstaute ihre wenigen Auserwählten sorgfältig in seinen Taschen. „Ist dir denn nicht kalt?“ Er nahm sie bei der Hand.
    „Nein, mein Anzug versorgt mich. Woher weißt du das nur alles, Maris?“
    Er führte sie kopfschüttelnd wieder hinunter. „Hier gibt es mehr, als ich mir je vorstellen kann. Ich habe nur ein Band über Schürfen und Geologie in der Bibliothek gefunden. Aber gerade deswegen wurde es viel wichtiger für mich, hierherzukommen, wo man alle Schichten des Planeten offen sehen kann, einen Zyklus nach dem anderen. Wenn man bedenkt, wieviel Zeit das erforderte, die Lebensgeschichte eines ganzen Planeten – das hilft mir, die Perspektive zu wahren, ich fühle mich hier immer jung.“
    „Wir glauben, wir würden Welten kennen, aber das stimmt nicht, wir sehen nur Menschen, Veränderungen und Kleinigkeiten. Dabei vergessen wir die mit dem Universum untrennbar verbundene größere Kontinuität. Es könnte auch unsere Perspektive verändern.“ Geröll rasselte und rollte davon. Sie hielt ihn an der Hand fest, als sein Fuß ausglitt. Er sah sie zerknirscht an, und sie mußte lachen. „Du mußt mich hier wirklich nicht führen, Maris. Daheim auf Calicho war ich so gewandt wie eine Bergziege, das habe ich noch nicht ganz vergessen.“
    Er ließ indigniert ihre Hand sinken. „Dann führe du mich.“
    Sie führte ihn lachend zum Fuß des Hügels.
    Unten
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