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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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an den Zweiten Weltkrieg – nichts ist für die Ewigkeit.«
    Ich gönne meinem Opfer keine Pause und schleppe es weiter zum Bahnhof Friedrichstraße. Der war in den Mauerjahren ein düsterer innerstädtischer Grenzübergang mit einer großen und inoffiziell »Tränenpalast« getauften Abfertigungshalle, was sich auf die zahlreichen Tränen bezog, die Verwandte und/oder Verliebte bei ihren abendlichen Trennungen vergossen. Denn mehr als Tagespassierscheine waren nicht drin. Heute tobt um den Bahnhof herum wieder, wie einst in den 20er-Jahren, das pralle Leben mit Geschäften, Restaurants, Theatern, unter anderem dem Kabarett Distel dem Admiralspalast oder auch dem Theater am Schiffbauerdamm, in dem in den 50er-Jahren Bertolt Brecht arbeitete und wirkte.
    Apropos Brecht. Ich scheuche meinen zunehmend schlapper durch die Gegend krauchenden Klienten die Chausseestraße Richtung Wedding hoch. Karls Jammern überhöre ich geflissentlich. Wie man schon in dem Stummfilmklassiker »Berlin. Die Sinfonie der Großstadt« sehen kann, ist Berlin vor allem eins: immer in Bewegung. Schnell, hektisch, rasant. Wer unbedingt das wahre, eigentliche, richtige Berlin kennenlernen will, muss dieses Tempo mitgehen können. Und zwar zu Fuß! Dumm natürlich, wenn der einem von der Natur nur geliehene Körper vernachlässigt wurde und so gar keine Bewegung gewöhnt ist.
    »Wo geht es denn noch hin, Murat?«, schnauft das ausgelaugte Walross.
    »Zum Dorotheenstädtischen Friedhof. Der ist fantastisch und mittendrin in Berlin. Mittiger und historischer geht kaum. Und das, glaube mir, ist wirklich ein Platz für die Ewigkeit.«
    Vorher zeige ich meinem kaum noch aufschauenden Begleiter links an der Ecke Hannoversche Straße das Haus Chausseestraße 131, in dem vor seiner Ausweisung aus der DDR der Liedermacher Wolf Biermann lebte und sang. Die Adresse ist durch Biermanns gleichnamige LP unsterblich geworden. Heute befindet sich im Erdgeschoss des unscheinbaren Hauses ein türkisches Restaurant.
    Ein paar Meter weiter die Chausseestraße hoch gelangen wir zum Dorotheenstädtischen Friedhof, der zum Zeitpunkt seiner Gründung ebenso wie das Scheunenviertel außerhalb der Berliner Stadtmauern lag. Rechts vom Eingang befindet sich das Brecht-Haus. Karl erlangt einen kleinen Teil seiner Lebensgeister wieder. Ich nehme an, es motiviert ihn, in der Nähe von so viel Toten zu sein. Der nekrophile Zug an ihm ist ja unverkennbar.
    »Das ist das Brecht-Haus? Kann man da rein?«
    »Kann man – unten gibt es sogar ein Lokal, in dem noch nach den Rezepten von Helene Weigel gekocht wird.«
    Karl ist tief beeindruckt.
    Aber Essen fassen ist nicht. Wir sind ja nicht zum Spaß unterwegs. Ich zerre ihn auf den Friedhof und zeige ihm auf 17.000 Quadratmetern Fläche das verblichene Who is who deutscher beziehungsweise preußischer Philosophie, Literatur und Kunst. Um rein willkürlich ein paar der hier Ruhenden aufzuzählen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Gottlieb Fichte, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Helene Weigel, Heiner Müller, Karl Friedrich Schinkel, Anna Seghers, Rudolf Bahro, Bernhard Minetti, Bärbel Bohley, Fritz Teufel.
    Die Ausgliederung der Friedhöfe aus der Stadt hatte natürlich rein hygienische Gründe. Man hatte Angst, dass die Verwesenden innerhalb der Stadtmauern Epidemien Vorschub leisten könnten. Man blieb übrigens auch tot noch gerne unter sich – direkt an den Dorotheenstädtischen Friedhof grenzt der Französische Friedhof, der von den zugewanderten Hugenotten gegründet und genutzt wurde.
    Ich setze mich auf eine Bank in der Nähe des Ehrengrabs für den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau. Es ist faszinierend zu sehen, wie Karl unter all den Toten sofort wieder aufblüht. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich sehe ihn noch zwischen den vielen Grabmälern verschwinden. Ein schönes Bild. Dann nicke ich ein.
    Als ich wieder aufwache, steht die Sonne schon ziemlich tief. Vielleicht ist das Tempo meiner Stadt inzwischen zu hoch für mich!? Von Karl keine Spur. Wäre er während meines Nickerchens zurückgekehrt, hätte er mich sicher mit seinem Geplapper geweckt. Rücksichtnahme ist für den Pädagogen a. D. ein alt-aramäisches Fremdwort.
    Seine Abwesenheit bereitet mir nun doch ein wenig Sorge.
    Ich erinnere mich noch gut an einen grausamen und nie aufgeklärten Mord auf dem Friedhof Bergmannstraße. Wenn Karl sich hier neben einen frisch Trauernden gestellt und ihn mit seinen Fragen und angelesenen Weisheiten terrorisiert hat,
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