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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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verhindern, dass im Fall des Falles gleich die ganze Stadt abgefackelt wurde.
    1773 verfügte Friedrich Wilhelm I., dass alle Juden ohne Wohneigentum in das Scheunenviertel umgesiedelt wurden. Ab sofort durften sie Berlin außerdem nur noch durch die nördlichen Stadttore betreten. Durch stete Zuwanderung entstand so im Scheunenviertel nach und nach eine bedeutende jüdische Gemeinde, deren kultureller Einfluss immer stärker wurde. Übrigens, all die großspurigen Neukölln-Kids, die laut herumtönen, sie lebten im Ghetto, sollten sich erst einmal klarmachen, was ein Ghetto tatsächlich war und bedeutete. Ich habe zumindest noch nicht gesehen, dass eines dieser armen unterdrückten Ghettokids zwangsweise in Neukölln bleiben musste.
    Mit der Industrialisierung und dem daraus resultierenden unaufhörlichen Zuzug verarmter Landbewohner wurde Wohnraum in Berlin und Umgebung ein zunehmend rares Gut. Bewohner eines Hauses begannen, in den wenigen verfügbaren Betten im Schichtbetrieb zu schlafen. Ich stelle mir kurz vor, wie sich unser gut genährter Besuch tagsüber in unserem Ehebett wälzt, und verdränge den Gedanken sofort wieder. Karl dagegen scheint die Idee interessant zu finden.
    »Ob das wohl stimmt, Murat? Haben die wohl bei jedem Wechsel die Bettwäsche ausgetauscht?«
    Ich sehe Karl perplex an.
    »Das meinst du doch nicht ernst, oder? Die Bettwäsche haben die bestenfalls alle paar Wochen gewechselt. Was meinst du, was das Waschen ohne Maschine für harte körperliche Arbeit war? Da musste der Kessel geheizt werden und die Wäsche gekocht und geschwenkt und gebleicht.« Ich kenne die Prozedur noch aus meinen frühkindlichen Urlauben in der Türkei.
    Während der Industrialisierung bekam das Scheunenviertel einen schlechten Ruf. Die Armut führte in dem Karree zu verstärkter Kriminalität und Prostitution. Ganz anders als in der jüdischen Gemeinde am Hackeschen Markt. Sie blühte auf und entwickelte einen großbürgerlichen Lebensstandard.
    Wo heute in den Hackeschen Höfen Kinos, Kleinkunst, Gastronomie und In-Shops die Gäste erfreuen, war früher die jüdische Gemeinde aktiv. Hier wurde gelehrt, hier hatten jüdische Studenten eine Kantine; es gab ein jüdisches Krankenhaus und eine jüdische Mädchenschule.
    Die sogenannte Spandauer Vorstadt war ein echtes Renommierviertel. Hier lebte unter anderem Brendel Veit (später Schlegel), die älteste Tochter des Philosophen und Aufklärers Moses Mendelssohn, die mit ihren Freundinnen Rahel Levin und Henriette Herz die Berliner Salonkultur begründete.
    Karl hat mir bestenfalls mit einem Ohr zugehört. Wahrscheinlich weiß er das alles eh schon aus seinen schlauen Büchern. Jedenfalls wechselt er abrupt das Thema.
    »Weißt du was, Murat?«
    Ich schiebe meinen gerade servierten Frühstücksteller seufzend zur Seite. Es kommt jetzt sicher nichts Gutes – und ich habe recht.
    »Ich möchte, dass wir nach dem Frühstück alle jüdischen Friedhöfe Berlins besuchen – wir müssen ein Grab finden, mit dem ich meine jüdische Vergangenheit belegen kann.«
    Ich sehe ihn fassungslos an.
    »Du willst ein Grab finden, das auf den Namen Häberle lautet?«
    Selbst der größte Traumtänzer von allen sieht ein, dass dies relativ aussichtslos ist. Es ist sowieso höchst erstaunlich, dass die Jüdische Gemeinde bei diesem so unjüdischen Nachnamen nicht sofort misstrauisch geworden ist.
    »Du wirst ihnen die Wahrheit sagen müssen, Karl.«
    Der Trickser nickt deprimiert, aber einsichtig.

    Am nächsten Tag ist klar: Den Job kann er sich abschminken – Karl wohnt also weiter bei uns. Er bleibt, bis vielleicht eines Tages ein Wunder geschieht, unser treuer und teurer Kost- und Schlafgänger.

    Jüdischer Friedhof Weißensee
    Der 1880 angelegte Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee ist der flächengrößte erhaltene jüdische Friedhof Europas (42 Hektar, so groß wie 86 Fußballfelder). Mit seinen 115.000 Grabstellen steht er unter Denkmalschutz. Die zum Teil prächtigen Grabsteine und Mausoleen wurden unter anderem von Stararchitekten wie Mies van der Rohe und Walter Gropius entworfen. Der Friedhof gehörte zu der Handvoll jüdischer Institutionen in Deutschland, die auch während der Nazizeit in jüdischer Selbstverwaltung blieben. Auf ihm ist zum Gedenken an die sechs Millionen Juden, die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung geworden sind, ein Denkmal errichtet worden. Mittelpunkt ist ein zentraler Gedenkstein mit folgender Inschrift:

    Gedenke Ewiger was uns
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