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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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alles glitzern. Der Boulevard wurde die Neidmeile der Ostler. Die sich deswegen besonders freuten, als ausgerechnet hier am 2. Juni 1967 die Studentenunruhen der 60er-Jahre in der großen Demo gegen den Schahbesuch gipfelten. Tempi passati. Nicht dass Sie denken, Karl hätte in all der Zeit, die wir hier den Ku’damm hochlaufen, seine Klappe gehalten. Ganz im Gegenteil. Aber da ich meinen eigenen Gedanken zum Thema nachhing, habe ich seine sicher hochinteressanten Ausführungen leider komplett verpasst.
    Nun stehen wir vor einer roten Ampel am Joachimstaler Platz, der Kreuzung von Kurfürstendamm und Joachimstaler Straße. Begeistert zeigt mein Führer auf einen viereinhalb Meter hohen Pfeiler, auf dem eine gläserne Kanzel thront. Die mir vorher noch nie aufgefallen ist. Da ich mir ziemlich sicher bin, dass die Mauer nicht mitten über den Ku’damm verlief, kann das kein ehemaliger Grenzwachturm sein. Aber was dann?
    Natürlich muss ich meine Neugier nicht lange zügeln, denn schon blubbert es zwanghaft aus dem schwäbischen Wanderlexikon heraus: »Das ist etwas ganz Besonderes. Eine Verkehrskanzel, von der aus Polizisten per Hand die Ampeln geschaltet haben. 1962 wurde das System in dieser Form abgeschafft – die Kanzel steht aber unter Denkmalschutz. Tja, Murat, damals wurde eben alles noch nach tatsächlichem Bedarf geregelt und nicht automatisch nach Schema F. Kannst du dir das vorstellen?«
    Und ob ich das kann. Wie oft habe ich während meines Polizeidienstes an Kreuzungen den Verkehr regeln müssen, wenn zur Abwechslung mal wieder die Ampeln ausgefallen waren. Man muss ja nicht glauben, dass Autofahrer, Fußgänger oder Radfahrer sich jemals nach einem Verkehrspolizisten richten würden. Die meisten wissen wahrscheinlich nicht einmal, was dessen Handzeichen überhaupt bedeuten.
    Stundenlang stand ich im dicksten Verkehrsmief, immer den sicheren Tod vor Augen. Da hätte ich so eine Kanzel gut gebrauchen können. Plötzlich kommt mir ein Gedanke.
    »Sag mal, du Bücherfresser, kommt der Begriff ›jemanden abkanzeln‹ eigentlich daher, dass Verkehrsteilnehmer von dort oben abgekanzelt wurden?«
    Karl schaut mich mitleidig an.
    »Na, so was kann ja nur ein Osmane fragen. Nee, der Ausdruck kommt von den Predigten in der Kirche, die ja auch von einer Kanzel herab gehalten wurden. Da wurden die armen Sünder vom selbstgerechten Pfarrer abgekanzelt.«
    Apropos Osmane. Man sieht nicht sehr viele Kopftücher am Ku’damm. Dafür aber am nahegelegenen Breitscheidplatz ganz viele fliegende Händler. Der Breitscheidplatz ist eh so ein Fall für sich. Zu Westberliner Zeiten bildete er mit der Gedächtniskirche und dem angrenzenden Europacenter samt darauf prunkendem Mercedesstern den mondänen Kern der Frontstadt. Heute sieht er mit seinen Billighändlern und dem eingerüsteten Turm der Gedächtniskirche eher wie die schäbige Karikatur eines prestigeträchtigen Platzes aus, und der Sightseeing-Wert tendiert von Tag zu Tag stärker gen null. Orte wie die Reichstagskuppel und das Brandenburger Tor haben dem Breitscheidplatz in der Gunst der Besucher sowieso schon seit Jahren den Rang abgelaufen.
    Vielleicht ist es das deprimierende Gesicht dieser Gegend, das die Lust zu süßen Sünden weckt. Jedenfalls habe ich Karl in unserer gemeinsamen Berliner Zeit noch nie so überzeugt zugestimmt wie in dem Moment, als er mich am Ende unseres kleinen Ausflugs zu Kaffee und Kuchen in das Neue Kranzler Eck am Kurfürstendamm 21 einlädt. Die dort stehende Buddy Bär Quadriga ist genauso süß wie der Bienenstich, den wir uns bestellen. Die zur Buße notwendigen zwei Extrastunden im Fitnessstudio nehme ich billigend in Kauf.
    Kauend möchte Karl mich überzeugen, dass der Ku’damm überhaupt nicht so gestrig ist, wie ich als Neuköllner Dorfbratze vielleicht glaube. Der Ausdruck Dorfbratze zeigt mir, dass der Provinzguru den Zenit seiner Peinlichkeit noch nicht überschritten hat und immer noch mit Berliner Dialektausdrücken protzen möchte. Ich strafe ihn demonstrativ mit Schweigen und bestelle mir lieber einen weiteren Bienenstich. Dieses Mal sogar mit Sahne. Drei weitere Stunden Fitnessstudio on top.
    »Murat«, schwadroniert der selbstgerechteste aller Gäste unbeirrt weiter, »wenn du glaubst, dies hier wäre ein totes Viertel, bist du komplett schief gewickelt. Hast du die Baustelle zwischen Gedächtniskirche, Kantstraße und Bahnhof Zoo gesehen? Da entsteht ein riesiges Hotel mit 32 Stockwerken. Das wird das neue Waldorf
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