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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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und Karl möchte zum Kurfürstendamm. Ich habe dreimal nachgefragt, ob ich ihn richtig verstanden habe. Über den Kurfürstendamm haben viele Leute eine Meinung, manche sogar eine gute. Hildegard Knef ging einst gar so weit, in einem erfolgreichen Chanson ihr Heimweh nach ihm zu beklagen. Ich kann Hildegard Knefs Sehnsucht nur bedingt nachvollziehen. Mal ganz abgesehen von der Frage, warum man für jeden Anlass ein Lied schreiben muss. Ich bin Neuköllner, würde aber trotzdem nie singen: Ich hab so Heimweh nach der Karl-Marx-Straße! Manche Dinge gehören einfach nicht an die Öffentlichkeit.
    Karl kennt Hildegard Knef natürlich noch. Und auch das besagte Lied. Sofern ich seine Worte gerade richtig verstanden habe, denn der Kurfürstendamm, allgemein nur als Ku’damm bekannt, ist ziemlich stark befahren. Busse, Autos – Hektik allerorten. Jedenfalls tagsüber – nachts ist der Ku’damm nach Aussagen zuverlässiger Zeitzeugen heutzutage ziemlich ruhig.
    Ich schreie Karl ins Ohr, dass der Ku’damm eine wechselvolle Vergangenheit hat. Mehr fällt mir nicht ein. Eine besondere Gegenwart kann ich nicht erkennen.
    Und die Leute erst!
    »Mensch, Karl – guck dich doch mal um!«, schreie ich in sein linkes Ohr. »Keiner hier ist unter 60 Jahre alt – außer uns beiden.«
    Karl nickt begeistert und strahlt. Da begreife ich zum ersten Mal, warum er diese Kaffeefahrten macht – er fühlt sich dann jung und dynamisch. Aber er hat recht: Ich spüre hier auch schon, wie sich meine Schultern straffen und der Bizeps wächst.
    Doch Karl und ich fallen hier aus einem weiteren Grund besonders auf. Karl hat von Natur aus wenig Haare. Ich hingegen habe den Kampf gegen meinen tückischen Haarausfall aufgegeben und rasiere mir im vorauseilenden Gehorsam den Kopf. In manchen, eher etwas ungemütlichen Ecken Berlins fällt man ja mehr auf, wenn man keine Glatze hat – am Ku’damm ist das anders. Die Leute tragen immer Haare und die Damen und manche Herren zusätzlich noch einen Hut auf dem Kopf! Hier gibt sich keiner auf. Wer kein Haupthaar mehr hat, ersetzt es halt durch ein Toupet – deshalb tragen auch so viele Männer Hüte: damit das Zweithaar nicht weggeweht wird. Aber Hut und Toupet beiseite: Der Kurfürstendamm ist 2011 stolze 125 Jahre alt geworden. Grund genug, sich vor der wechselvollen Geschichte dieser Magistrale zu verneigen.

    Und wechselvoll war die Geschichte bei Gott. Vor dem Zweiten Weltkrieg und der daraus resultierenden Teilung Berlins stellte der Ku’damm die Konkurrenz zur Prachtstraße Unter den Linden dar. In Etablissements wie dem Café des Westens und dem Lunapark galt: sehen und gesehen werden.
    »Die goldenen 20er-Jahre«, erklärt mir Karl, der anscheinend wieder den Gedankenleser in sich aktiviert hat, ungefragt, »die goldenen 20er-Jahre sind untrennbar mit dem Kurfürstendamm verbunden. Das war die große Zeit des Varietés. Und des politischen Kabaretts.«
    Bei dem Stichwort »politisches Kabarett« befürchte ich kurz, dass Karl sich wieder an seinen Vorsatz erinnert, auf Vorlesebühnen Geschichten seines langweiligen Lebens auszubreiten. Dem ist aber zum Glück nicht so. Während ich mich also wieder entspanne, fällt mir mein Nachmittag im Mainzer Kabarettarchiv ein, welches ich allen Freunden der Kleinkunst nur wärmstens ans Herz legen kann. Dort beeindruckte mich nicht zuletzt die Arbeit von Werner Finck im einstmals am Ku’damm angesiedelten »Kabarett der Komiker«. Noch in der Nazizeit machte der unerschrockene Wortartist zeitkritisches politisches Kabarett. Legendär seine Frage an die stets anwesenden Gestapo-Spitzel: »Spreche ich zu schnell? Kommen Sie noch mit? Oder muss ich mitkommen?« Eines Tages musste er leider wirklich mitkommen, überlebte den Krieg aber und war bis zu seinem Tod in den 70er-Jahren ein gefragter Kabarettist und Schauspieler. Über seine Lehre aus den Gefängniserfahrungen im Dritten Reich sagte er später: »Ich stehe hinter jedem, bei dem ich nicht sitzen muss, wenn ich nicht hinter ihm stehe.« Und nie wurde die Essenz des so kurzlebigen Tausendjährigen Reichs so gut auf den Punkt gebracht wie in seinem Satz »Es ist ja eine Ironie des Schicksals, dass gerade in dem Land, in dem am meisten ›Heil‹ gerufen wurde, so wenig heil geblieben ist.«
    Nach der Zerstörung und anschließenden Teilung Deutschlands bekam der Kurfürstendamm eine ganz neue Rolle zugewiesen: Er wurde zum Schaufenster für das Wirtschaftswunder des Westens. Hier sollte und musste
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