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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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oberirdisch die Zuckerbäckerbauten der Karl-Marx-Allee anschauen, die früher Stalinallee hieß. Die in den 50er-Jahren gebauten Häuser sehen wirklich aus wie Naschwerk, sind wunderschön verziert, und die Wohnungen haben zum Teil Kacheln aus Delfter Porzellan. Das ist sozusagen Platte de luxe.
    Berühmt oder eher berüchtigt wurde die Prachtallee aber, als dort im Juni 1953 die DDR-Arbeiteraufstände begannen, die ja bekanntlich mit dem Eingreifen der Sowjetarmee blutig endeten. Was dazu führte, dass im Westen der 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit begangen wurde. Der dann 1990 vom 3. Oktober abgelöst wurde. Ich klinge inzwischen schon wie Karl, oder?
    Während also Karl in seiner üblich langatmigen Art vom ehemaligen Viehmarkt Alexanderplatz schwadroniert, denke ich, dass der Alexanderplatz letzten Endes auch heute noch einem Viehumschlagort ähnelt. Wer das nicht glaubt, versuche mal, in der Rushhour in den sich dort vielfältig kreuzenden Untergrundgängen unfallfrei die U-Bahn zu wechseln. Menschenmassen, wo man hinschaut. Supereilig, mit dem unvermeidlichen Coffee to go in der Hand und mieser Laune im Gesicht werden die Horden von einer unsichtbaren Hand zwischen den einzelnen Linien hin und her geschoben. Auch meine Laune fällt rapide in den Keller, als mir die Erinnerung an meine am Alex schmählich gestohlene Geldbörse kommt.
    »Was für ein Mist«, fluche ich unwillkürlich.
    Von meinem plötzlichen emotionalen Ausbruch überrascht, bricht Karl seinen Viehvortrag ab.
    »Was ist, Murat?«, fragt er besorgt.
    »Ach nichts«, winke ich ab. Was mir jetzt gerade noch fehlen würde, wäre gönnerhafter Trost aus seinem dauerplappernden Mund.
    Nachdem wir einige Hundert Meter schweigend nebeneinander hergegangen sind, stößt Karl mich von der Seite an. Er möchte mich überreden, am Hackeschen Markt frühstücken zu gehen. Dort müsse er mir etwas Wichtiges anvertrauen, deutet er geheimnisvoll Weltbewegendes an. Ich ahne nichts Gutes.
    »Karl, du musst mir keine Geheimnisse erzählen«, sage ich vorbeugend, als wir wenig später in dem sehr charmanten Ampelmann-Café auf der Wiese vor der S-Bahn sitzen und auf unser Frühstück warten. »Wir sind schließlich nicht beste Kumpels oder so was.«
    Der leicht zu kränkende Datenstaubsauger schaut mich beleidigt an. Und nötigt mir, quasi als Trostpflaster, das Versprechen an, dass wir uns nachher noch die Hackeschen Höfe und das Scheunenviertel anschauen.
    »Wir schauen uns alles an – versprochen. Du bekommst heute so viel Historie, dass du dich nachher garantiert zehn Jahre älter fühlst.«
    Karl rührt mit vorwurfsvoller Miene in seiner heißen Schokolade herum. ›Ich dachte, du wärst mein Freund, Murat‹ scheint jede Faser seines von der Enttäuschung gebeutelten Körpers sagen zu wollen. Nach fünf Minuten anklagenden Herumrührens halte ich es nicht mehr aus.
    »Also gut, Kamerad: Was ist?«
    Nachtragend ist der Leidemann jedenfalls nicht. Sofort sprudeln seine wichtigen vertraulichen Neuigkeiten nur so aus ihm heraus.
    Die gute Nachricht: Er sucht sich jetzt ernsthaft eine Wohnung und einen Job in Berlin. Das ist natürlich auch gleichzeitig die schlechte Nachricht. Aber es kommt noch schlimmer: Er verrät mir zwischen zwei Schluck heißer Schokolade, dass die Jüdische Gemeinde Berlin ihn vielleicht als Archivar einstellen möchte.
    Und jetzt platzt die Bombe. Er hat in seiner Bewerbung behauptet, Jude zu sein. Das stimmt leider nicht. Er hat auch behauptet, dass seine Familie ursprünglich aus dem Scheunenviertel stammt. Das stimmt leider ebenfalls nicht. Als ich ihn frage, warum in Dreiteufelsnamen er etwaigen Arbeitgebern solche dreisten Lügen auftischt, zuckt der Märchenerzähler nur die Schultern. Kleinlaut fügt er hinzu: »Ich hab halt gelesen, dass im Scheunenviertel und um den Hackeschen Markt herum viele Juden gelebt haben. Da dachte ich, das könnte meine Bewerbung etwas aufpeppen.« Diese verdammten Reiseführer! Ich muss unbedingt daran denken, sie heute Abend alle miteinander in den Sondermüll zu geben. Simplify your Life, kann ich da nur sagen.
    Wobei die Info an sich natürlich stimmt. Das Scheunenviertel liegt oder vielmehr lag um die heutige Dircksenstraße und reichte bis zum Rosa-Luxemburg-Platz. Dort waren im 17. Jahrhundert außerhalb der Berliner Stadtmauern 27 Scheunen errichtet worden. Das hatte seinen Grund, denn Heu und Stroh sind bekanntermaßen extrem brennbar, und durch das Outsourcing der Scheunen konnte man
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