Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Autoren: Frederick Kempe
Vom Netzwerk:
Luftraums zu entschuldigen. Die Altstalinisten in der sowjetischen Kommunistischen Partei und Mao Tse-tung in China hielten diese Vorgänge für einen Beweis der mangelnden Führungsqualitäten Chruschtschows und wetzten in Vorbereitung des XXII. Parteitags der KPdSU schon ihre Messer gegen den sowjetischen Parteichef. Da Chruschtschow selbst in der Vergangenheit solche Parteiversammlungen dazu genutzt hatte, um einige seiner Gegner loszuwerden, waren alle seine Planungen für das Jahr 1961 darauf abgestellt, eine solche persönliche Katastrophe mit allen Mitteln zu verhindern.
    Vor diesem Hintergrund war für Chruschtschow nichts bedrohlicher als die sich ständig verschlechternde Lage im geteilten Berlin. Seine Kritiker warfen ihm vor, er tue nichts gegen das fortwährende Eitern der gefährlichsten Wunde der kommunistischen Welt. Ostberlin blutete in alarmierender Geschwindigkeit aus, je mehr Flüchtlinge sich in den Westen absetzten. Dabei
kehrte ja gerade der unersetzlichste und fähigste Teil der Bevölkerung – Unternehmer, Intellektuelle, Bauern, Ärzte und Lehrer – dem Land den Rücken. Chruschtschow nannte Berlin gern »den Hoden des Westens. Jedes Mal, wenn wir zudrücken, heulen die Vereinigten Staaten auf.« 4 Tatsächlich wäre es aber die treffendere Metapher gewesen, Berlin als die Achillesferse Chruschtschows und des Ostblocks zu bezeichnen, als den Ort, an dem der Kommunismus wohl am verwundbarsten war.
    Allerdings ließ sich Chruschtschow nichts von seinen Sorgen anmerken, als er sich unter die Gäste des Neujahrsbanketts mischte, zu denen Kosmonauten, Ballerinen, Künstler, Apparatschiks und Botschafter gehörten, die jetzt alle in das strahlende Licht der sechs massiven Bronzeleuchter und dreitausend elektrischen Lampen des Kremlsaals getaucht waren. Für sie war eine solche Einladung zu einer Festveranstaltung des Sowjetführers eine Bestätigung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Da John F. Kennedy in weniger als drei Wochen sein Amt antreten würde, warteten sie jetzt noch gespannter als sonst auf den traditionellen Neujahrstrinkspruch des sowjetischen Parteichefs. Sie wussten genau, dass dieser den Grundtenor für die weiteren Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion vorgeben würde.
    Als um Mitternacht von der Kuranty-Uhr des im 16. Jahrhundert errichteten Spasski-Turms die zwölf berühmten, gewaltigen Glockenschläge über den Roten Platz hallten, zog Chruschtschow im St.-Georg-Saal sein eigenes Schauspiel ab. Einigen Gästen schüttelte er die Hand, andere umarmte er und schien dabei in seinem Überschwang manchmal fast aus seinem grauen, leicht ausgebeulten Anzug herauszuplatzen. Es war immer noch dieselbe Energie, die ihn von seiner bäuerlichen Geburt im russischen Dorf Kalinowka in der Nähe der ukrainischen Grenze durch Revolution, Bürgerkrieg, Stalins Säuberungen, den Weltkrieg und den Führungskampf nach Stalins Tod an die Macht geführt hatte. Die kommunistische Machtergreifung hatte vielen Russen aus bescheidenen Verhältnissen unerwartete Gelegenheiten geboten, aber keiner hatte alle Umbrüche so geschickt überlebt und war so weit aufgestiegen wie Nikita Sergejewitsch Chruschtschow.
    Angesichts Chruschtschows ständig steigender Fähigkeit, den Westen mit nuklear bestückten Raketen anzugreifen, unternahmen die US-amerikanischen Geheimdienste große Anstrengungen, ein psychologisches Profil des sowjetischen Führers zu erstellen. 5 Im Jahr 1960 hatte die CIA etwa zwanzig Experten – Internisten, Psychiater und Psychologen – versammelt, die sich mithilfe von Filmen, Geheimdienstakten und persönlichen Berichten ein genaues Bild
von dem sowjetischen Führer machen sollten. Diese Gruppe ging so weit, sogar Nahaufnahmen von Chruschtschows Arterien genau zu untersuchen, um dem Gerücht nachzugehen, sie seien verhärtet und er leide unter hohem Blutdruck. In einem streng vertraulichen Bericht, den man später Präsident Kennedy vorlegen würde, kamen sie zu dem Ergebnis, dass Chruschtschow trotz seiner Stimmungsschwankungen, Depressionen und gelegentlichen Alkoholexzesse (die er allerdings in letzter Zeit weitgehend unter Kontrolle habe) das Verhalten eines, wie sie es nannten, »chronisch optimistischen Opportunisten« zeige. Am Ende zogen sie den Schluss, dass er eher ein überschwänglicher Aktivist als ein, wie viele bis dahin geglaubt hatten, machiavellistischer Kommunist nach der Art Stalins sei.
    Bild 37
    Der Moskauer KP-Chef Nikita Chruschtschow empfängt im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher