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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Autoren: Frederick Kempe
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Friedensstifters. »Im Wahlkampf«, erzählte Chruschtschow seinen Zuhörern, »hat Mr Kennedy gesagt, dass er, wäre er Präsident gewesen, der Sowjetunion sein Bedauern ausgesprochen hätte«, dass die Amerikaner Spionageflugzeuge über sowjetischem Territorium eingesetzt hatten. Chruschtschow fügte hinzu, dass auch er »diese bedauerliche Episode hinter sich lassen und nicht mehr darauf zurückkommen möchte. […] Wir glauben, dass das amerikanische Volk, indem es sich für Mr Kennedy und gegen Mr Nixon entschied, seine Missbilligung der Politik des Kalten Kriegs und einer Verschlechterung der internationalen Beziehungen ausgedrückt hat.«
    Chruschtschow hob sein frisch gefülltes Glas. »Auf eine friedliche Koexistenz aller Völker!«
    Donnernder Applaus. Noch mehr Umarmungen.
    Dabei war Chruschtschows Wortwahl wohlüberlegt. Der wiederholte Gebrauch des Begriffs »friedliche Koexistenz« war sowohl eine Absichtserklärung an Kennedy als auch eine Botschaft der Entschlossenheit an seine kommunistischen Rivalen. Chruschtschow hatte in seiner berühmten Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 in Anerkennung der sowjetischen Wirtschaftsschwächen und der neuen nuklearen Bedrohung ein neuartiges Konzept in das politische Denken der Sowjetunion eingeführt: Künftig sollten die kommunistischen Staaten mit den kapitalistischen friedlich zusammenleben und in Wettbewerb treten können. Seine Gegner befürworteten dagegen eine Rückkehr zu Stalins aggressiveren Vorstellungen über die Weltrevolution und die aktivere Vorbereitung auf einen letzthin unvermeidlichen Krieg.
    Zu Beginn des Jahres 1961 war Stalins Geist für Chruschtschow weit gefährlicher als jede Bedrohung aus dem Westen. Bei seinem Tod im Jahr 1953 hatte Stalin Chruschtschow eine zerrüttete Sowjetunion mit 209 Millionen Einwohnern und dutzenden von Nationalitäten hinterlassen, die sich über ein Sechstel der gesamten Landmasse der Welt erstreckte. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion ein Drittel ihres Nationalvermögens verloren. 27 Millionen
Sowjetbürger waren umgekommen, 17 000 Städte und 70 000 Dörfer zerstört worden. 13 Dabei waren die Millionen von Menschen noch gar nicht mitgezählt, die Stalin zuvor durch von Menschen gemachte Hungersnöte und seine politischen Säuberungen umgebracht hatte. 14
    Chruschtschow warf Stalin vor, einen unnötigen, teuren Kalten Krieg begonnen zu haben, bevor sich die Sowjetunion von diesen schweren Zerstörungen erholen konnte. Vor allem verurteilte er Stalin wegen der gescheiterten Berlin-Blockade von 1948, als der Diktator die amerikanische Entschlossenheit unterschätzt hatte, obwohl die Vereinigten Staaten zu dieser Zeit noch über ein Atomwaffenmonopol verfügten. Folgerichtig konnte der Westen das Embargo brechen, entstand im Jahr 1949 die NATO und wurde noch im gleichen Jahr im Westen eine separate Bundesrepublik Deutschland gegründet. Damit verbunden war die Entscheidung der Amerikaner, entgegen ihren ursprünglichen Planungen in Europa weiterhin und für längere Zeit Truppen zu stationieren. Nach Chruschtschows Ansicht hatte die Sowjetunion einen hohen Preis bezahlt, »weil Stalin das Ganze nicht ordentlich durchdacht hatte«. 15
    Nachdem er in seinem Neujahrstrinkspruch Präsident Kennedy den Olivenzweig hingehalten hatte, nahm ein immer noch nüchterner Chruschtschow den westdeutschen Botschafter Hans Kroll 16 zu einem persönlichen Gespräch beiseite. Für Chruschtschow war der zweiundsechzigjährige Deutsche der zweitwichtigste westliche Botschafter nach dem abwesenden Thompson. Tatsächlich fühlte er sich Kroll persönlich weit näher als dem amerikanischen Abgesandten, nicht zuletzt wegen dessen fließender Beherrschung der russischen Sprache. Außerdem war Kroll wie viele Deutsche seiner Generation davon überzeugt, dass sein Land kulturell, historisch und möglicherweise auch politisch Moskau näher stehe als den Vereinigten Staaten.
    Begleitet vom Ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten Anastas Mikojan und dem Präsidiumsmitglied Alexej Kossygin zogen sich Chruschtschow und Kroll in denselben eigentümlichen Nebenraum zurück, in dem der Sowjetführer ein Jahr zuvor gegenüber Thompson seine Drohungen ausgestoßen hatte. Damals hatte Kroll unter Protest die Neujahrsfeier verlassen, als der sowjetische Ministerpräsident in seinem Trinkspruch gegen die »deutschen Militaristen und Revanchisten« gewettert hatte. 17
    Dieses Mal war Chruschtschow jedoch äußerst
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