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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Autoren: Frederick Kempe
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Chruschtschow wegen Berlin beinahe den Dritten Weltkrieg ausgerufen hätte.
    Um 2 Uhr morgens hatte damals der bereits stark alkoholisierte Chruschtschow Thompson, dessen Frau, den französischen Botschafter und den Chef der Kommunistischen Partei Italiens in den neu gebauten Vorraum des St.-Georg-Saals geführt, in dem seltsamerweise ein künstlicher Brunnen stand, dessen Becken mit farbigen Kunststofffelsen gefüllt war. Chruschtschow herrschte Thompson an, er werde es den Westen teuer büßen lassen, wenn dieser seine Forderungen für ein Berlin-Abkommen nicht erfüllen werde, zu denen unter anderem auch ein Abzug der alliierten Truppen gehöre. »Dreißig unserer Atomwaffen sind für Frankreich bestimmt, mehr als genug, um dieses Land zu zerstören«, sagte er und nickte in Richtung des französischen Botschafters. Der Ausgewogenheit halber fügte er dann noch hinzu, dass für Westdeutschland und Großbritannien jeweils fünfzig vorgesehen seien.
    In einem etwas unbeholfenen Versuch, die allgemeine Stimmung aufzulockern, hatte Jane Thompson daraufhin gefragt, wie viele Raketen Chruschtschow denn für Uncle Sam vorgesehen habe.
    »Das ist ein Geheimnis«, hatte Chruschtschow mit einem boshaften Lächeln geantwortet.

    Thompson versuchte, die Situation zu retten, indem er einen Trinkspruch auf den kommenden Pariser Gipfel mit Eisenhower ausbrachte und dabei den Wunsch äußerte, er möge die Beziehungen zwischen den beiden Staaten wieder verbessern. Der sowjetische Ministerpräsident steigerte daraufhin seine Drohungen nur noch weiter, indem er die Zusicherung an Eisenhower aufkündigte, er werde in Berlin bis zu diesem Pariser Treffen keine einseitigen Störmaßnahmen ergreifen. Thompson konnte dieses wodkageschwängerte Beisammensein erst um 6 Uhr morgens beenden. Als er sich auf den Heimweg machte, wusste er, dass die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Supermächten davon abhängen würden, ob sich Chruschtschow am nächsten Morgen noch an irgendetwas erinnern konnte, was er in dieser Nacht gesagt hatte.
    Zur Schadensbegrenzung schickte Thompson noch am gleichen Morgen eine Depesche an Präsident Eisenhower und Außenminister Herter, in der er zwar Chruschtschows Bemerkungen mitteilte, gleichzeitig jedoch erklärte, dass man sie aufgrund der Trunkenheit des Sowjetführers auf keinen Fall »wörtlich nehmen« sollte. Er interpretierte sie dahingehend, dass der sowjetische Ministerpräsident »uns nur den Ernst der Lage in Berlin klarmachen« wollte.
    Ein Jahr später war Thompson also zu Hause geblieben. Dabei war Chruschtschow noch weitgehend nüchtern und in einer deutlich besseren Stimmung, als die Uhr schließlich zwölf schlug. Nachdem die Glocken das Jahr 1961 eingeläutet hatten und die Lichter des zwölf Meter hohen Neujahrsbaums im Sankt-Georg-Saal angezündet worden waren, erhob Chruschtschow sein Glas und äußerte einen Trinkspruch, den seine höheren Parteiführer als Richtungsweisung betrachteten und dessen Text sie mittels diplomatischer Depeschen in die ganze Welt verbreiteten.
    »Ein glückliches Neues Jahr, Genossen. Glückliches Neues Jahr! So gut das alte Jahr auch gewesen ist, das neue Jahr wird sogar noch besser werden!«
    Alle im Saal brachen in Hochrufe aus, umarmten und küssten sich.
    Danach brachte Chruschtschow auf förmliche Weise einen Trinkspruch auf die Arbeiterschaft, die Bauern, die Intellektuellen, die Lehren des Marxismus-Leninismus und die friedliche Koexistenz der Völker aus. In einem versöhnlichen Ton fügte er hinzu: »Wir halten zwar das sozialistische System für überlegen, aber wir versuchen nie, es anderen Staaten aufzuzwingen.« 12
    Im Saal wurde es still, als er sich dann den Vereinigten Staaten und Präsident Kennedy zuwandte:
    »Liebe Genossen! Freunde! Meine Damen und Herren! Die Sowjetunion unternimmt jede Anstrengung, um freundschaftliche Verbindungen mit allen
Völkern zu unterhalten. Ich glaube, niemand wird mir jedoch die Aussage verübeln, dass wir großen Wert auf die Verbesserung unseres Verhältnisses zu den USA legen, da diese Beziehung auch die zu anderen Staaten sehr stark beeinflusst. Wir würden gern glauben, dass die Vereinigten Staaten dasselbe Ziel verfolgen. Wir hoffen, dass der neue US-Präsident wie ein frischer Wind die abgestandene Luft zwischen den USA und der UdSSR vertreiben wird.«
    Der Mann, der noch vor einem Jahr die Atombomben gezählt hatte, die er auf den Westen werfen würde, gefiel sich jetzt in der Rolle des
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