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Berichte aus dem Christstollen

Berichte aus dem Christstollen

Titel: Berichte aus dem Christstollen
Autoren: Jan Weiler
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ab und stärke die Abwehrkräfte. Klaus sah aus wie eine Mischung aus René Obermann und Reinhold Messner, wie ein effizienzorientierter Naturbursche.
    Nach dem Frühstück brachen wir auf zur Skischule, einer Institution, der wir unsere Kinder seit Jahren gerne anvertrauen, weil sie davon abends so schön müde sind. Colin-Noel wollte nicht mit. Er weinte. Er mochte keinen Schnee. Klaus schon. Er liebte Schnee, unter anderem weil dieser kostenneutral zur Verfügung gestellt werde, was heutzutage beileibe nicht selbstverständlich sei.
    Wir lieferten Nick und Carla in ihren Gruppen ab, und sie mischten sich wie kleine Fische in den Schwarm. Colin-Noel setzte sich in den Schnee und brüllte. Klaus und Dagmar behaupteten, das lege sich bald, und verschwanden. Mittags fuhren wir an der Skischule vorbei, heimlich gucken, was die Kinder machten. Ehrlich gesagt fuhr ich aber vorbei, um heimlich zu gucken, was Colin-Noel so machte. Er saß im Schnee und schrie.
    Am nächsten Tag das Gleiche. Wir schauten um elf, und Colin-Noel hockte auf der Piste, die Arme verschränkt, im Gesicht grenzenlose Verzweiflung. Wir fuhren unauffällig gegen Mittag vorbei, und Colin-Noel weinte. Wir kamen um halb drei, und er warf mit Schnee nach dem Skilehrer. Abends sagte ich zu Klaus: «Vielleicht wäre Schlittenfahren was für Colin-Noel», und er antwortete beleidigt: «Mein Sohn ist ein Naturtalent. Er ist in einer intensiven kognitiven Phase.» Mittwochs schmollte Colin-Noel kognitiv am Rande der Übungspiste, donnerstags hatte er dabei nicht einmal Skier an, freitags machte er erste zaghafte Versuche, indem er sich vom Skilehrer über die Ebene ziehen ließ. Samstags ließen wir die Skischule sausen, denn die Kinder wollten unbedingt mit der Kutsche fahren. Die im Ort konkurrierenden Schlittenkutscher hießen Hans und Franz, genau wie die Brüste von Heidi Klum. Sie waren zwar miteinander, nicht aber mit Heidi Klum verwandt. Wir entschieden uns für Franz, und für diesen Tag kann ich Colin-Noels Fortschritte nicht beurteilen.
    Beim Abendessen verkündete Klaus, dass sein Sohn morgen allen zeigen werde, wo der Hammer hängt. Im Abschlussrennen werde er von Nick kaum zu schlagen sein. Ich lachte. Nick fährt gut, meistens brettert er einfach so lange geradeaus, bis ein Hindernis kommt, dann lässt er sich fallen. Sieht spektakulär aus. Kurven kann er auch, wenn er will, hält sie aber für überbewertet. Klaus erhob sich vom Abendessen und erklärte, er müsse nun die Skier seines Sohnes wachsen. Er wolle auch die Kanten schleifen. Der Skisport sei eine Hightech-Veranstaltung. Er strich Colin-Noel über den Kopf und sang: «So sehen Sieger aus.»
    Am nächsten Vormittag dann das Abschlussrennen. Nick machte sich gut, er fand alle Tore und fiel nicht hin. Mehr kann und darf man von einem Sechsjährigen nicht erwarten. Finde ich. Etwas später war Colin-Noel an der Reihe. Sein Vater schubste ihn aus dem Starthäuschen, und Colin-Noel rutschte die Piste abwärts, das Visier beschlagen vor lauter Aufregung. Klaus rannte wie ein Irrer hinter ihm her und brüllte: «Hopp, hopp, hopp, hopp!»
    Die Siegerehrung mit der Verteilung der Skischulmedaillen filmte Klaus mit zitternder Hand, und auch ich war aufgeregter, als ich zugeben wollte. Um es abzukürzen: Nick wurde Zwölfter von 26  Startern. Colin-Noel wurde Elfter. Nächstes Mal lasse ich auch wachsen. Die kleine Krücke muss doch wohl zu schlagen sein.
    Um Nick zu motivieren, feierten wir sein Ergebnis mit dem Verzehr von Germknödeln. Ich verblüffte meinen Sohn damit, dass ich immer schon vorher wusste, was der auf dem Teller liegende Germknödel zuletzt gegessen hatte, nämlich Pflaumen. Bei der Obduktion war tatsächlich immer Pflaumenmus im Bauch des blinden pelzlosen Nagetiers.
     
    Zu den klassischen Verrichtungen in den Weihnachtsskiferien gehört für uns auch ein mit Unvernunft gezündetes Silvesterfeuerwerk. Nick hat vor einem Jahr zum ersten Mal bis dahin durchgehalten. Jahrelang hatte er sich das immer wieder vorgenommen und war dann aber doch jedes Mal vorher eingeschlafen. Aber letztes Silvester trank er heimlich so viel Cola, dass er wach blieb, sei es vom Koffein oder vom Zuckerschock, der ihn derwischartig im Schnee herumzischen ließ. Man braucht keinen Knallfrosch, wenn man so einen Sohn hat.
    Diesmal hatte ich aber keine Lust auf die geisteskranke Böllerei. Ich wollte Ruhe, denn das Jahr war schon so furchtbar laut gewesen. Der Lauf der Zeit ist kein ruhiger Fluss,
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