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Berichte aus dem Christstollen

Berichte aus dem Christstollen

Titel: Berichte aus dem Christstollen
Autoren: Jan Weiler
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sondern ein reißender Strom, der unglaublichen Radau macht. Wenn wir irgendwann mal im hohen Alter von Guido Knopp als Zeitzeugen vernommen werden, haben wir wirklich eine Menge, Menge, Menge zu erzählen.
    Wir gingen um zwanzig Minuten vor Mitternacht auf das große Feld hinter dem Hotel. Carla, Nick, Sara und ich. Wir hatten einen Papierballon dabei. Ich glaube, die Dinger sind in Deutschland verboten, weil sie angeblich den Flugverkehr stören oder Erich von Däniken aufschrecken oder so. Wir zündeten also in der weißen Fluglaterne eine Kerze an und hielten sie zu viert fest, bis sie abhob und langsam in die Höhe stieg. Ich legte Nick eine Hand auf die Schulter und sah ihn an, wie er konzentriert die Fahrt des Papierballons verfolgte. Wie das Jahr wohl für ihn war? Ob er diesen donnernden Strom der Weltgeschichte schon zur Kenntnis nimmt?
    Das erste Silvester, an das ich mich gut erinnern kann, fand 1976 statt. Da fiel ich von einer Mauer. Die Mauer stand in Frankreich, ich saß darauf und bin rückwärts hinuntergekippt. Warum, weiß ich nicht. In meiner Erinnerung war sie mindestens fünf Meter hoch, aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht. Ich knallte jedenfalls auf den Rücken, wurde bewusstlos, und als ich erwachte, konnte ich nicht atmen, was mir furchtbare Angst machte. Aber dann ließen die Schmerzen nach, und es stellte sich heraus, dass ich vollkommen unverletzt war. 1976 war für mich das Jahr mit der Mauer in Frankreich. Und nicht das Jahr der Bundestagswahl, das Jahr der Rosi Mittermaier, der Gurtpflicht oder gar der Apple-Gründung.
    Ich sah auf meinen Sohn hinunter, der immer noch gebannt die fliegende Laterne beobachtete. «Was war für dich der wichtigste Moment des Jahres?», fragte ich ihn. Er antwortete, ohne mich anzusehen: «Ich weiß nicht.» Ich hakte nach. Irgendetwas muss es doch in diesem Jahr gegeben haben, was ihn besonders beeindruckt hatte. Nun muss man wissen, dass Kinder in diesem Alter die Zeit kaum in Jahren abrechnen. Eher in Jahreszeiten. Oder in bewältigten Leveln. Damals, als ich noch in Level  12 war. Das könnte ein Satz von ihm sein.

    Er dachte nach, das spürte ich. Dann sagte er: «Vielleicht die Sache mit dem Skateboard. War das in diesem Jahr?» Das war es. In der Tat. Bei der Sache mit dem Skateboard hatte er einen spektakulären Stunt hingelegt. Er und sein Kumpel Finn waren auf Rollbrettern unterwegs. Sie fuhren mit vollem Orchester eine abschüssige Straße hinunter, und Nick konnte nicht mehr anhalten, halb aus Begeisterung, halb aus Furcht. Schließlich krachte er mit der Spitze des Brettes gegen einen Bordstein und flog ungefähr vier Meter weit, über einen Gartenzaun in einen Rhododendron. Er verletzte sich kein bisschen dabei, und es muss sagenhaft ausgesehen haben. Leider war ich nicht dabei. Aber dieser Crash war Nicks Moment des Jahres. Da kann so ein Rösler noch so oft versprechen zu liefern. Nick hat geliefert. Und wie.
    Wir sahen der Laterne hinterher, die schon fast verschwunden war. Ein wunderschöner Moment der Andacht und des Friedens. Da sagte Nick in die Stille hinein: «Du, Papa, wann explodiert das Mistding denn endlich?»
    Drei Tage später fuhren wir wieder nach Hause. Ich zahlte die Hotelrechnung, und mein Sohn verabschiedete sich, und zwar mit den Worten von Herrn O. aus Frankfurt, der jeden Abend die Hotelbar mit folgendem Billy-Mo-Klassiker verlassen hatte: «Es sprach dä Scheisch zum Emir, erst zahl’n mir und dann geh’n mir. Es sprach dä Emir zum Scheisch: Mir zahl’n net, mir geh’n gleisch. Da sprach der Abdul Hamid: Und ’s Tischduch neh’m wir a mit.»
    Na sdorowje!

La Befana war da!
    Wenn man eine Familie gründet, erhält man die Chance, damit auch eigene Familientraditionen einzuführen. Schließlich stecken die Füße unter dem eigenen Tisch, und da kann man draufhauen (auf den Tisch, nicht auf die Füße) und rufen: «Scheiß-Lametta! Das Zeug habe ich schon immer gehasst. Kommt mir nicht ins Haus, der Kram.» Und Karpfen auch nicht. Moderne Familien futtern Lachs, und am sechsten Januar schlafen sie lange, bis unsäkularisierte Kinder vorbeikommen und mit Kreide an der Tür rumschmieren. Anstatt ihnen dafür eine zu verpassen, spende ich immer Geld, weil Geben seliger ist denn Nehmen.
    Ansonsten gab es bei uns bisher keine Festtagsbräuche für den Dreikönigstag. Bis letzten Mittwoch. Da überraschte mich mein Schwiegervater Antonio abends mit der Ankündigung, La Befana sei im Anflug: «Du, da kommte
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