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Berichte aus dem Christstollen

Berichte aus dem Christstollen

Titel: Berichte aus dem Christstollen
Autoren: Jan Weiler
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die Deutschen am 11 . November nicht nur das verdienstvolle Tun des braven Sankt Martin, sondern ab elf Uhr und elf Minuten auch die Existenz einiger Gestalten, die prinzipiell nichts taugen und gerade dafür hochgradig geschätzt werden. Dieser spielerisch dialektische Umgang mit Angelegenheiten größter Unterschiedlichkeit ist es, der uns Deutsche so ganz besonders auszeichnet.
    Wobei: Der Beginn des Karnevals hat in den meisten Gegenden Deutschlands keine besondere Bedeutung, was wohl damit zusammenhängen mag, dass man den Karneval vielerorts ganz einfach doof findet. In München, Cottbus, Berlin oder Hamburg passiert am 11 . 11 . praktisch nichts, was nicht auch am 10 . oder am 12 . 11 . geschehen könnte. Auch im Rest der sogenannten närrischen Session ist in diesen Städten nicht besonders viel los. Selbst Bottrop, die offizielle Partnerstadt von Berlin-Mitte, ist im Vergleich zur Hauptstadt karnevalistisch betrachtet ein vulkanöses Fleckchen. Und in München besteht der Fasching im Wesentlichen aus gemütlichen Bällen. Den Höhepunkt des närrischen Treibens bildet in der bayerischen Metropole der Tanz der Marktfrauen auf dem Viktualienmarkt, ein Spektakel, an dem sich alljährlich um die 10 000 Münchner ergötzen. 10 000 . Das entspricht in etwa der Besucherzahl einer achtzig Quadratmeter großen Kölner Eckkneipe am Rosenmontag. Aber man darf nicht ungerecht sein. In München wird das Volk schließlich das ganze Jahr über mit dem närrischen Treiben des fröhlichen Dreigestirns aus Prinz Seehofer, Bauer Söder und Jungfrau Dobrindt bestens unterhalten. Und wofür die Kölner rein sauftechnisch drei Monate brauchen, das erledigen die Münchner in zweieinhalb Wochen Oktoberfest.
    Die rheinischen Rituale beginnen jedenfalls am 11 . 11 . mit groß angelegten Festivitäten, die auf Außenstehende durchaus befremdlich wirken. In Köln wird zum Beispiel an vielen Orten der «Nubbel» aufgeknüpft. Beim Nubbel handelt es sich um eine mit Stroh ausgepolsterte Gestalt, die bis zum Aschermittwoch an den Gasthäusern hängt. «Nubbel» ist aber auch eine Art kölsches Füllwort, das im Grunde nichts Konkretes bedeutet. Wenn von «irgendwem» die Rede ist, dann spricht man vom Nubbel. Wenn jemand «irgendwo» ist, dann ist er beim Nubbel. All diese Eigenschaften haben dazu geführt, dass man in Berlin den Nubbel hier und da mit dem Niebel verwechselt, der ebenfalls erstens gut ausgepolstert und zweitens ständig irgendwo ist. Aber im Gegensatz zum Nubbel wird dem Niebel nicht am Aschermittwoch der Prozess gemacht. Da verlesen die Kölner eine Anklageschrift, befinden den Nubbel für schuldig und verbrennen ihn, was sie mit einem letzten Schnaps begießen, um dann für drei bis zehn Tage ins Bett zu gehen.

    In Düsseldorf gibt es keinen Nubbel, dafür aber den Hoppeditz. Die beiden haben wenig miteinander gemein, aber auch der Hoppeditz muss am Ende sterben. Vorher treibt er sich als Schelm mit Narrenkappe im Karneval herum. Der Hoppeditz wird am 11 . 11 . an zentraler Stelle in vielen rheinischen Gemeinden zum Leben erweckt. Dieser Vorgang hat durchaus etwas Gespenstisches an sich.
    Vor Jahren luden meine Frau Sara und ich meinen Schwiegervater Antonio Marcipane ein, uns zum Hoppeditz-Erwachen zu begleiten. Wir dachten, dass ihm das gut gefallen würde, weil er Prozessionen aller Arten schätzt, ganz egal, ob es um Jesus, den Mindestlohn oder die Verhinderung einer Windkraftanlage geht. Er ist einfach gerne an der frischen Luft und unter Leuten.
    Zunächst spielte karnevalistische Marschmusik, dann wurde ein weißer Sarg herangetragen, was Antonio dazu veranlasste, sich andächtig in den Schritt zu greifen. Die Holzkiste wurde auf einer Bühne abgestellt und eindringlich besprochen. Dann zählte ein dicker Mann die letzten zehn Sekunden herunter, und als es elf Uhr und elf Minuten wurde, flog der Deckel auf, und der Hoppeditz sprang aus dem Sarg. Antonio erschreckte sich derart, dass er beinahe in Ohnmacht fiel. Da hatte er jahrzehntelang mit dem düsteren katholischen Mythos der Auferstehung gelebt, war schon als Kind im Messdienergewand der Osterprozession mit tödlichem Ernst gefolgt. Und dann so was: Aus dem Sarg hopste ein Clown, der in seiner ersten Amtshandlung ein Glas Bier austrank und dann «Helau» brüllte.
    Antonio war fassungslos und sagte: «Keine Ahnung von die Ehre der Toten abbe sie, die Deutsche.» Er brauchte vier Bier, bis er über den Schock hinwegkam. Schließlich war er dann doch der
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