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Berichte aus dem Christstollen

Berichte aus dem Christstollen

Titel: Berichte aus dem Christstollen
Autoren: Jan Weiler
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Meinung, dass es sich durchaus lohne, die Toten einmal im Jahr zu wecken. Der Karneval hatte gewonnen, wie er bei jedem gewinnt, der sich nur auf ihn einlässt.

Der alte Mann mit dem Bart
    Es gibt Momente im Leben, da muss man mal sägen. Ich benötigte daher einen Fuchsschwanz und fuhr zum Baumarkt. Dort bin ich für mein Leben gern und berausche mich an Begriffen wie Steck-Übergang-Nippel, Klapprosette oder Fräsständer. Ich bewundere die unermessliche Vielfalt von Schrauben wie ein Schnorchler den Artenreichtum eines maledivischen Riffs. Ich streichele riesige Bohrmaschinen und staune über die patentierten Lineale, mit denen man Dübellöcher anzeichnen kann. Ich gehöre allerdings nicht zu jenen Kunden, die das alles auch besitzen müssen, denn ich habe zwei linke Hände und daran ausschließlich Daumen.
    Ich bin einer von denen, die hauptsächlich den Fünf-Euro-Kram vor der Kasse kaufen. Wir bewahren unglaublich viele Schraubenzieher in raffinierten Verpackungen und zahllose Knick-Leuchtstäbe im Keller auf. Ich habe auch schon Kirsch- und Erdbeerwein im Baumarkt gekauft und eine Nottaschenlampe fürs Auto und sieben Zollstöcke. Die halten bei uns nie lange, weil Nick damit immer Funkgerät spielt und die ausgeklappte Antenne bei seinen Polizeieinsätzen abbricht. Keiner unserer Zollstöcke ist länger als achtzig Zentimeter.
    Ich stand also vor den Sägen und nahm begeistert zur Kenntnis, dass man mit einem modernen Fuchsschwanz alles zersägen kann, sogar Gasbeton. Ich muss mir mal Gasbeton zulegen, nur so, zum Zersägen. Ich entschied mich für ein sagenhaft gefährlich aussehendes Modell und wollte zur Kasse gehen, als ich den Nikolaus sah. Er saß auf einem Klappstuhl neben einer deckenhohen Pyramide von in Tannenform gepressten Holzbriketts und schaute deprimiert aus seinem Bart. Ich nickte ihm zu. Er nickte zurück und sagte:
    «Hier gibt es die original Bickenbecker Tannenbriketts. Tannenbriketts-zehn-Kilo-drei-fuffzich.»
    «Aha», antwortete ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
    «Sie haben nicht zufällig was zu trinken?», fragte der Nikolaus.
    «Was? Meinen Sie Schnaps?» Ich war ein bisschen entrüstet.
    «Irgendwas halt», sagte er. Er gab ein vollkommen würdeloses Bild ab, wie er auf seinem Stühlchen neben der Aktionsware saß und um Alk bettelte.

    «Sie können doch nicht bei der Arbeit saufen», sagte ich, denn er bereitete mir Sorgen. «Da fliegen Sie doch in null Komma nix raus.»
    «Mir egal. Außerdem: Ich kann ja gar nicht rausfliegen.»
    Er weckte meine Neugier.
    «Wieso? Gehört Ihnen der Laden?»
    «Der Laden? Nein, aber ich kann meinen Job nicht verlieren. Niemals kann ich meinen Job verlieren, das ist ja gerade das Problem.»
    Ich verstand kein Wort.
    «Was reden Sie denn da? Sie können doch auch irgendetwas anderes machen. Sie müssen doch nicht hier den blöden Nikolaus spielen.»
    «Ich bin der Nikolaus», sagte er mit plötzlich aufscheinendem Pathos.
    «Schon klar.»
    «Sie verstehen mich nicht. Ich bin der Nikolaus. Der echte. Der einzige. Alle anderen sind bloß Imitate. Ich bin der Nikolaus. Und ich habe Durst.»
    «Soso. Und was macht der echte Nikolaus in Wolfratshausen im Baumarkt?», fragte ich stark zweifelnd.
    «Das frage ich mich manchmal auch. Wissen Sie, ich bin schon seit 1700  Jahren unterwegs. Da kommt man rum. Ich habe auf jedem Kontinent gearbeitet, ich war in jeder Branche tätig. Ich kenne die Königshäuser und die Sozialwohnungen, ich war bei Harrods und bei Aldi, bei den Eskimos und bei den Missionaren im Kongo. Ich habe Süßigkeiten in Trillionen stinkender Socken und Stiefel gesteckt.»
    «Das ist doch aber toll!»
    «Finden Sie? Die verdammte Schlepperei. Das Gemecker wegen Karies und das Gebrüll der Kinder. Da arbeite ich lieber im Baumarkt. Was soll ich machen? Ich bin nun einmal der verdammte Nikolaus. Und ich habe ja sonst nichts gelernt. Da würden Sie auch saufen, glauben Sie mir. Ich muss das noch viele hundert Jahre machen, bis endlich der Letzte den Glauben an mich verloren hat.» Er sah mich mit wässrigen Nikolausaugen an. «Was ist, kaufen Sie jetzt die Briketts?»
    Ich nahm ihm dreißig Kilo Tannenbaum-Briketts ab. Jetzt brauche ich nur noch einen Kamin. Aber einen Fuchsschwanz habe ich auf jeden Fall schon mal. Ich werde Tannenbaum-Brikett-Puzzles sägen. Und auf den Nikolaus trinken. Er lebe hoch, der arme Bursche.

24-mal werden wir noch wach
    Unsere vierzehnjährige Tochter hat eine tiefe Gerechtigkeitslücke in unserem
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