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RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts

RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts

Titel: RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
Autoren: Christian Jacq
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EINS
     
     
    reglos starrte der wilde Stier den jungen Ramses an. Ein gewaltiges
Tier: die Beine stämmig wie Pfeiler, lange Hängeohren, ein zottiger Bart, braun
und schwarz das Fell. Es hatte den jungen Mann gewittert.
    Gebannt blickte Ramses auf die Hörner des Stiers, die
am Ansatz eng beieinanderstanden, sich dann nach hinten bogen und steil in die
Höhe stiegen. Sie endeten in so scharfen Spitzen, daß jeder Gegner Gefahr lief,
aufgeschlitzt zu werden.
    Noch nie hatte der junge Mann einen so riesigen Stier
gesehen.
    Dieser hier gehörte zu einer gefürchteten Rasse, der
selbst die besten Jäger lieber auswichen; das männliche Tier, das friedlich
inmitten seiner Herde lebte, verletzten oder kranken Artgenossen Hilfe
leistete, zur Aufzucht der Jungtiere beitrug, wurde, sobald man seine Ruhe
störte, zum entsetzenerregenden Krieger. Schon die kleinste Herausforderung
machte es rasend, und dann stürmte es los, mit atemberaubender Schnelligkeit,
und sein Zorn flaute erst ab, wenn der Gegner zur Strecke gebracht war.
    Ramses wich zurück.
    Der Schwanz des wilden Stiers peitschte durch die
Luft; ein unerbittlicher Blick traf den Eindringling, der sich vorgewagt hatte
in sein Reich, die Weideflächen bei dem Sumpf, wo hohes Schilfgras wuchs.
Unweit kalbte eine Kuh im schützenden Kreis der Herde. Hier, in den einsamen
Gefilden am Ufer des Nils, herrschte das große männliche Tier über seine Herde
und duldete keinen Fremden.
    Der junge Mann hatte gehofft, die Pflanzen würden ihn
tarnen. Doch die tief in den Höhlen liegenden braunen Augen des Stiers ließen
nicht ab von ihm. Er würde ihm nicht entkommen, das war Ramses klar.
    Vorsichtig wandte er den Kopf seinem Vater zu,
kreidebleich.
    Sethos, Pharao von Ägypten, den man den »siegreichen
Stier« nannte, hielt sich etwa zehn Schritte hinter seinem Sohn. Es hieß,
allein seine Anwesenheit lahme seine Gegner. Sein Verstand, scharf wie der
Schnabel des Falken, wirke allerorten, und es gebe nichts, was er nicht wisse.
Sethos, von schlankem Wuchs, mit strengen Gesichtszügen, hoher Stirn,
Habichtsnase und vorspringenden Wangenknochen, war die Verkörperung der Macht.
Er war der verehrte und gefürchtete Alleinherrscher, der Ägyptens Ruhm von
ehedem zurückerobert hatte.
    Der vierzehnjährige Ramses, vom Körperbau her bereits
einem Erwachsenen ähnlich, war zum erstenmal mit seinem Vater zusammen.
    Im Palast war ihm ein Erzieher zur Seite gestellt, dem
es oblag, ihn so zu unterweisen, daß er als Ehrenmann und Sohn des Königs eines
Tages in einem hohen Amt ein sorgloses Leben führen könne. Doch heute hatte
Sethos ihn völlig unverhofft aus dem Hieroglyphenunterricht geholt und ihn,
ohne ein Wort zu sprechen, hierher aufs Land mitgenommen, fernab jeglicher
Siedlung.
    Als das Schilf zu dicht geworden war, hatten der König
und sein Sohn den von zwei Pferden gezogenen Wagen verlassen und waren durch
das grüne Dickicht gestapft. Und da diese Hürde nun hinter ihnen lag, befanden
sie sich im Reich des Stiers.
    Wer von beiden war furchteinflößender, der wilde Stier
oder der Pharao? Beide strahlten eine Kraft aus, der Ramses sich nicht
gewachsen fühlte. Wurde nicht in allen Erzählungen beteuert, der Stier sei ein
himmlisches Wesen, beseelt vom Feuer der anderen Welt, und der Pharao stehe im
Bunde mit den Göttern? Obwohl er groß und kräftig war und jede Angst von sich
wies, fühlte der Jüngling, daß hier zwei in gewisser Weise übereinstimmende
Kräfte auf ihn einwirkten.
    »Er hat mich entdeckt«, bekannte er mit betont fester
Stimme.
    »Um so besser.«
    Diese paar Worte, die ersten, die sein Vater sprach,
klangen wie eine Verurteilung.
    »Er ist gewaltig, er…«
    »Und du, wer bist du?«
    Die Frage überraschte Ramses. Wütend scharrte der
Stier mit dem linken Vorderhuf; Silber- und Graureiher flogen auf, als
flüchteten sie vom Schlachtfeld.
    »Bist du ein Feigling oder ein Königssohn?«
    Sethos’ Blick durchbohrte die Seele.
    »Ich kämpfe gern, aber…«
    »Ein echter Mann geht bis an die Grenze seiner Kräfte,
ein König darüber hinaus; wenn du dazu nicht fähig bist, wirst du nicht
regieren, und wir werden uns niemals wiedersehen. Nichts darf dich erschüttern.
Kehr um, wenn du es wünschst; andernfalls fang ihn ein.«
    Ramses nahm seinen ganzen Mut zusammen, hob den Blick
und bot seinem Vater die Stirn.
    »Du schickst mich in den Tod.«
    »Sei ein mächtiger Stier, von ewiger Jugend, mit
starkem Herzen und spitzen Hörnern, den kein Feind je
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