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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Militärgerichtsbarkeit, die Eltern der Kleinen sind nicht irgendwer ... kein Zuckerschlecken für einen wie Jakob Burkhardt.«
    »Warum erzählen Sie mir das?«, fragte er erregt. »Muss ich mir das anhören?«
    »Sie wollten ja nicht selbst berichten«, schnauzte ich zurück. Verdammt, es kostete mich viel Konzentration, die Namen nicht durcheinanderzuwerfen. Und das in meinem Zustand! »Was also tun? Noch hält das eingeschüchterte Mädchen still, aber wie lange? Und vor allem: was, wenn der Fehlgriff Folgen haben sollte? In dieser Lage kommt der Zufall Burkhardt gleich doppelt zu Hilfe. Da ist zum einen sein Kumpel Hanjo. Sie sind beide 17, haben sich von den Nazis verführen lassen, inzwischen aber das Vertrauen in das Regime verloren. Hanjo ist bereit, die Reißleine zu ziehen: Er will sich ins Ausland absetzen, koste es, was es wolle. Vielleicht hat er Verwandte im Osten, vielleicht kann er russisch, wer weiß. Jedenfalls wartet er nur noch auf die richtige Gelegenheit. Jakob dagegen ist unschlüssig, er hat einen guten Draht zum Kompaniechef. Da werfen, und das ist Zufall Nummer zwei, amerikanische Jabos Bomben auf Bergheim. 11 Tote in einer Straße. Nein: 10 Tote! Das ist der Moment für einen waghalsigen Plan. Jakob, der Vergewaltiger, könnte versuchen zu fliehen und sich für tot erklären lassen; Soldaten waren ja oft zu Gast in der Bergheimer Straße. Nicht schlecht. Viel besser aber, wenn er seinem Freund Hanjo die Flucht ermöglicht, während es gleichzeitig heißt, er, Jakob Burkhardt, sei in den Trümmern gestorben. Was hat Jakob davon? Ganz einfach: eine neue Identität.«
    »Blödsinn!«, schrie Bünting. Es sah aus, als wolle er mich mit dem Brieföffner massakrieren. »Sie spinnen total! Sie phantasieren im Vollrausch! Sie ...« Schwer atmend brach er ab; seine Augen traten ungewöhnlich stark hervor.
    »Von dem Oban sollten Sie sich mehr zulegen. Besser als Dalwhinnie und Glenlivet, finde ich. Nicht zu mild, nicht zu scharf. Genau richtig. Aber wir waren bei der Identitätsfrage. Wichtiges Thema, wenn Sie mich fragen, im Philosophischen Institut verbringen sie Stunden damit. Für Jakob Burkhardt war es noch wichtiger: Es ging, möglicherweise, um Leben und Tod. Der Plan einer einzigen Nacht, die Aktion eines ganzen Lebens. Ich stelle es mir so vor: Die Bomben fallen. Sirenen. Er hört von den 10 Toten. Ruft seinen Freund zu sich. Macht ihm den Vorschlag: jetzt oder nie. Wagst du es oder kneifst du? Der Freund zögert noch; aber er will ja fort, unbedingt. Das ist die Gelegenheit, und vielleicht bekommt er von Jakob etwas Geld. Damals schon, es würde mich nicht wundern. Resultat: Hanjo, der Freund, haut ab. Macht sich noch in der gleichen Nacht auf und davon. Jakob eilt zur Bergheimer Straße, findet – er ist untröstlich – die Überreste seines guten Kameraden unter den Trümmern, packt sie in einen Sarg und lässt sie schnellstmöglich vergraben.«
    »Die Namen!«, unterbrach mich Bünting heiser. »Die Namen! Sie haben sie verwechselt. Es steht doch Burkhardt auf dem Grab! Burkhardt!«
    Ich sah ihn an. Versuchte Verachtung in meinen Blick zu legen. Beugte mich über den Tisch, bis unsere Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren. Er wich keinen Zentimeter zurück.
    »Ha, ha«, sagte ich. »Selten so gelacht.«
    Und das wars dann irgendwie. Ich meine, es gibt diese raren Momente im Leben, auf die man jahrelang hinarbeitet; und kaum sind sie da, zerfließen sie einem zwischen den Fingern, werden zu Asche oder zu Alkoholdunst. Einen kurzen Augenblick lang triumphierte ich über den Alten, freute mich über den Schlag, mit dem ich seine ganze Existenz zertrümmert zu haben glaubte ... und schon eine Sekunde später war mir der Triumph egal. Er langweilte mich.
    »Ich verwechsele gar nichts, Herr Doktor«, fuhr ich fort. »Sie sind derjenige, der die Namen vertauschte, und zwar mit voller Absicht. Die Flucht Ihres Freundes und sein angeblicher Tod gaben Ihnen die Gelegenheit, sich selbst, Jakob Burkhardt, für tot zu erklären und dafür den Namen des Verschwundenen anzunehmen: Hanjo Bünting.«
    Die Musik im Erdgeschoss versickerte, tröpfelte aus. Auch das passte, denn der Gipfel meines Triumphs als Ermittler war überschritten. Der alte Wagner hatte für eine satte Untermalung gesorgt, nun klang er belanglos und nebensächlich.
    »Normalerweise ein wahnsinniges Unterfangen. Aber Sie lebten ja in einer wahnsinnigen Zeit. Ein schneller Fick, eine Flucht, ein angeblicher
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