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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof
Autoren: Gmeiner-Verlag
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nicht in dem Grab liegen.« Sie zeigte auf Burkhardt, der rechts stand.
    Entweder hatte sie etwas durcheinandergebracht oder ihr Neffe. Beiden war es zuzutrauen. Ich beugte mich vor und zeigte nacheinander auf die beiden Figuren. »Der Mann hier rechts ist Jakob Burkhardt, der Vergewaltiger, den Sie nie gesehen haben; und links steht Hanjo Bünting, damals Jakobs Freund, heute Chemiker. Vielleicht sind Sie ihm in den Kriegstagen einmal über den Weg gelaufen.«
    »Genau«, sagte der Neffe.
    »Von wegen«, rief die Alte empört. »Ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen! Ich bin doch nicht verkalkt!« Flink schnappte sie nach dem Foto und belehrte uns: »Den Linken kenne ich nicht, der mag Bünting heißen oder sonst wie, aber eine Verbrechervisage hat er. Und der hier rechts: Das ist nie und nimmer dieser Burkhardt gewesen. Ich weiß seinen Namen nicht, aber missbraucht hat der niemanden. So wahr mir Gott helfe!« Zur Bekräftigung ihrer Worte nahm sie einen Keks.
    Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Das ergab doch keinen Sinn ... Engelbert, der Neffe, versuchte es mit einem vagen »Vielleicht irrst du dich ja, Oma«, aber damit kam er schlecht bei ihr an.
    »Dir ziehe ich gleich die Ohren lang«, fuhr sie auf und fixierte ihn über ihre Lesebrille hinweg. »Ich weiß genau, wann ich mich irre, und hier irre ich mich auf keinen Fall!«
    Ich kaute auf meiner Unterlippe. Die Wirkung des Oban ließ nach; vielleicht begriff ich deshalb so langsam. Oder lag es an meinem Personengedächtnis? Bünting hatte sich in gut sechs Jahrzehnten kaum verändert. Selbstbewusstsein und Überlegenheit sprachen schon damals aus seinem Blick, da hätte es der Abzeichen auf seiner breiten Brust gar nicht erst bedurft. Doch ob ich Burkhardt auf Anhieb wiedererkannt hätte? Ein hagerer, großer Kerl mit Hakennase – mehr Erinnerungen hatte ich nicht an den Toten auf dem Grab.
    »Also, wir beide sind uns einig«, sagte ich zu dem Physiker. »Links steht der junge Hanjo Bünting, seines Zeichens Chemiker et cetera. Stimmts?«
    Er nickte. Die Alte nickte grimmig mit.
    »Und jetzt zu dem Mann rechts. Sie haben ihn nie gesehen?«
    Der Neffe verneinte.
    »Aber Sie?«
    »Natürlich«, bestätigte die Oma. »Wie oft soll ich das noch sagen: Er war einer dieser Soldaten von nebenan, die uns über den Weg liefen. Kam sogar zwei- oder dreimal zu uns ins Haus, weil er ein Auge auf meine Schwester geworfen hatte, obwohl sie etwas älter war. Bestimmt hat er uns auch seinen Namen gesagt oder seinen Vornamen, aber den habe ich längst vergessen. Überlegen Sie mal, nach so vielen Jahren! Burkhardt hieß der jedenfalls nicht. Ausgeschlossen. Damals sprach man doch über Burkhardt und was er getan hatte. Wenn ich diesen Namen gekannt hätte, hätte ich ihn sofort mit einem Gesicht verbunden. Der hier war das nicht, der war ein netter Mensch. Und Isolde kannte ihn ja auch.«
    Da saß ich nun mit meinem großartigen Foto, den Erzählungen aus dem Krieg und einer Handvoll durcheinander gewürfelter Namen. Wieso passte das alles nicht zusammen? Die alte Dame war keineswegs verkalkt, bewahre. Wenn sie sagte, das hier ist nicht Jakob Burkhardt, dann war das nicht Jakob Burkhardt. Punkt. Aber wer war es dann? Den Whisky hatte ich draußen in der Satteltasche gelassen. Ein strategischer Fehler.
    Der Neffe schlürfte seinen Tee und griff noch einmal nach dem Foto. Er hielt es so nahe vor seine bebrillten Augen, dass ich die Widmung auf der Rückseite lesen konnte.
    Drehen ... Ein einfacher Dreh.
    Natürlich: Man musste das Ganze nur drehen. Es war so einfach. Eine haarsträubend komplizierte, haarsträubend einfache Geschichte. Aber Max Koller ließ sich ja alles weismachen. Ließ sich von einem selbstsicheren Großbürger an der Nase herumführen. Na, warte, du elender Kriegsheld!
    »Ich schicke Ihnen Blumen«, rief ich und sprang auf. »In die Blumenstraße ... nein, ich bringe sie persönlich vorbei. Die Kekse waren hervorragend. Danke! Vielen, vielen Dank!«
    Ich steckte das Foto ein und flitzte hinaus.
     
     

45
     
    Mein Auftritt war phänomenal. Ich riss die Tür auf, stolperte über die Schwelle, fiel gegen den Sessel, auf dem Stunden zuvor Arndt um den Gnadenstoß gebettelt hatte, und kam schließlich an Büntings Mahagoni-Ungetüm zum Stehen. Niemand sprang erschrocken auf, niemand schrie mich an. Lediglich aus dem Untergeschoss drang gedämpfter Lärm nach oben, irgendeine Kreuzung aus Mehlschwitze und Filmmusik. Ich war allein. Natürlich nicht
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