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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Tod – was sind das schon für Kleinigkeiten in einem Krieg, in dem Millionen sterben? Menschen haben wir vergast, Welteroberungspläne geschmiedet, Unschuldige hingemetzelt – dagegen sind Sie doch gar nichts, Bünting. Nichts! Für mich sind Sie nicht mal ein Verbrecher, das wäre viel zu hoch gegriffen. Ein mieser Kinderficker sind Sie und ein Schmierenkomödiant, mehr nicht.«
    Der Alte schwieg, wahrscheinlich für immer. Es war besser so; ich redete wie im Rausch, eher für mich als für ihn. Während ich mich durch sein Single-Malt-Sortiment trank, ritzte er mit seinem Brieföffner Figuren in den Mahagoni-Tisch, unentzifferbare Buchstaben, Hieroglyphen aus einem vergangenen Jahrtausend.
    »Nur der Vollständigkeit halber: Wie konnte dieser Taschenspielertrick gelingen? Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Sie mit dem Rücken zur Wand standen. Dann war es gar nicht mehr schwer. Jakob Burkhardt, der Soldat und Vergewaltiger, war tot. Man brauchte lediglich mit seinem Vorgesetzten ein paar vertrauliche Worte reden, in der Art von: Ich habe da eine Dummheit begangen ... könnte man nicht ... jeder von uns hat doch Dreck am Stecken ... Und so weiter. Im März 1945 wird sich ein SS-Offizier mit Hakenkreuz auf der Brust so seine Gedanken über die Zukunft gemacht haben. Da kann man Untergebene, die für einen die Hand ins Feuer legen, gut gebrauchen. Abgemacht also: Jakobs Vorgesetzter unterschreibt einen Wisch, der Jakobs Tod bestätigt. Es folgt die Wiederauferstehung als Hanjo Bünting. Dazu ist nicht einmal der Pass des Geflohenen nötig. Dank guter Beziehungen lässt man sich einen neuen ausstellen, gleich mit dem richtigen Foto, oder man gibt an, Bombenopfer zu sein und nichts zu besitzen, als was man auf dem Leib trägt. Auch hier hilft das vertrauliche Gespräch mit dem Vorgesetzten. Heikel wird es nur, wenn einen die Verwandten des Mädchens, die den Vergewaltiger für tot halten, auf der Straße treffen. Was tun? Nun, dann geht man eben nicht mehr auf die Straße. Bittet um Nachtdienst. Und sobald irritierte Nachfragen kommen, von den Kollegen aus der Truppe zum Beispiel, taucht man unter. Nutzt den Rückzug aus der Stadt zur Desertion. Erst verstecken, dann verdrücken. Schon ist es passiert, aus Jakob ist Hanjo geworden. Und nach dem Krieg kann man eine neue, unbescholtene Existenz aufbauen, möglichst weit weg von Heidelberg.«
    Ich schöpfte Atem und schenkte nach. Bünting kratzte weiter schweigend Figuren auf den Tisch. Ich versuchte das Gekrakel zu entziffern, aber dafür gab es offenbar keinen Code. Vielleicht protokollierte er mit, formulierte sein Geständnis oder sein Testament. Eine Botschaft für die Nachwelt, mit schwindender Kraft ins harte Holz getrieben.
    »Nun brauchten Sie nur noch abzuwarten, bis das Feilen der Zeit Ihr Werk abrundete. Ihr Äußeres veränderte sich, die Menschen vergaßen die alten Geschichten. Was ist mit Verwandten und Bekannten? Auch hier drohte keine Gefahr. Die Büntings sind tot, nach dem Verschwundenen fragt niemand. Sie haben Ihren Vater gehasst, sagten Sie mir, und den Kontakt vermutlich abgebrochen. Aber selbst wenn nicht: Die eigene Familie kann man mit einer Legende aus den Kriegstagen ruhigstellen. Lasst uns nicht mehr drüber reden, stemmen wir lieber das deutsche Wirtschaftswunder. Die Namensgleichheit, gut, die konnte dem ein oder anderen auffallen. Da liest und hört man von einem Chemiker Hanjo Bünting, dabei sieht der einem Mann gleichen Namens, der früher um die Ecke wohnte, gar nicht ähnlich ... Na und? So etwas kommt vor. Nein, Gefahr drohte nur aus dem Ausland: wenn der Vermisste eines Tages wieder auftauchen sollte.«
    Nun ging es unten wieder los. Orchestrales Happy End, Schlussapotheose, oder wie man das nennt.
    »Und damit kommen wir zu Kapitel zwei unseres Vortragabends. Der Mann, der einmal Hanjo Bünting hieß, kehrt zurück. Damit mussten Sie rechnen, von Anfang an. Aber gerade am Anfang dürfte Ihnen das noch keinen Kummer bereitet haben. Vielleicht haben Sie damit gerechnet, dass er seinen Fluchtversuch nicht überlebt, ich kann das nicht beurteilen. Gleichviel: Er kam durch. Falls er nach dem Krieg wieder auftauchte, würde er sich bei Ihnen melden. Sie sind Freunde, Sie haben ihm zur Flucht verholfen – da lässt sich verschmerzen, dass Sie seinen Namen angenommen haben, um sich einen Neuanfang zu ermöglichen. Und die Vergewaltigung? Er wusste davon. Sie hatten sich an einem Mädchen vergangen, er war desertiert. Fehltritte
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