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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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Hauptstraße des Dorfes entlang. Obwohl ein Dutzend indische und tibetische Jungen fröhlich rufend hinter ihnen herlaufen, ist die Atmosphäre bedrückend, von einer fast greifbaren Schwere. Vor der Reihe betonierter Geschäfte, bestückt mit allen möglichen Waren, haben Händler und Kunden ihre Tätigkeiten eingestellt. Ihre Köpfe drehen sich geräuschlos und synchron, um diesen seltsamen Fremden zu folgen, die an ihnen vorbeigleiten.

    Auf einer Getränkekiste sitzt Evan, umgeben von einer Schar vergnügter Kinder. Er genießt eine große, sehr reife Mango. Der orangefarbene Saft rinnt über seinen Unterarm. Evan leckt ihn ab und blinzelt, übertreibt sein Lustgefühl. Die Kinder lachen noch lauter. Evan gegenüber steht ein Carrom 5 , und ein tibetischer Junge von etwa zehn Jahren ist sein Gegner im Spiel. Stolz wie ein Pfau mustert er herablassend den Erwachsenen, ehe er heftig gegen einen roten Stein schnippt. Das Projektil trifft auf die hölzerne Umrandung, prallt zurück
und stößt einen weißen Stein an, der in einen kleinen Stoffbeutel in der Ecke des Spielbretts gleitet. Die Kinder springen hoch und brüllen, um die Leistung ihres Favoriten zu bejubeln. In die begeisterten Zurufe mischt sich das ferne Läuten eines Telefons. Evan hebt die Augen.
    Abseits auf der Freitreppe eines kleinen Ladens in der prallen Sonne sitzt Anne. Hastig stellt sie die Coca-Cola-Flasche ab, aus der sie gerade noch getrunken hat, und greift nach dem Telefon, das auf ihren Knien ruht.
    »Hallo.«
    Evan beobachtet sie aus dem Augenwinkel.
    »Was sagst du? Ich höre dich kaum.«
    Anne presst die linke Hand gegen das freie Ohr und hebt die Stimme.
    »Nichts … Bist du sicher? Du sagst das nicht, um mich zu beruhigen?!«
    Evan verfolgt Annes Reaktionen genau. Mit dem Zeigefinger schnippt er ebenso heftig wie zerstreut gegen den roten Stein. Sofort stößt er einen Schmerzensschrei aus und schüttelt die Hand. Die Kinder ringsum lachen laut los. Anne steht auf und dreht sich unwillkürlich zur Seite, um gegen den Lärm besser geschützt zu sein. Ihr Oberkörper befindet sich nun inmitten eingeschweißter, mit Staub bedeckter Packungen, die vor dem Schaufenster aufgehängt sind: Bonbons, Betelblätter,
Chips, Shampoo, Waschmittel, Aspirin, Präservative. Sie schreit auf.
    »Super. Gibst du sie mir kurz?«
    Erleichtert dreht sich Anne erneut um. Ein tibetisches Mädchen steht wie angewurzelt vor dem Laden und betrachtet sie neugierig.
    »Hallo, mein Liebling. Hörst du mich?«
    Anne lauscht dem Brabbeln ihrer Tochter.
    »Ich liebe dich. Hörst du mich? Ich liebe dich.«
    Das tibetische Mädchen nähert sich ihr schrittweise. Anne zwinkert ihm verständnisinnig zu.
    »Ja, ich hab’s verstanden. Vielen Dank.«
    Die Kleine ist direkt vor Anne zum Stehen gekommen. Sie streckt die Hand aus und streicht ihr behutsam über das Haar an den Unterarmen. Anne lächelt.
    »Abgemacht. Ich ruf dich in zwei Tagen wieder an. Ja, zur gleichen Stunde wie heute. Ich küsse dich.«
    Der rote Stein prallt gegen zwei Banden des Spielbretts und setzt den letzten weißen Stein in Bewegung, der schließlich in den Stoffbeutel fällt. Der kleine Anführer hebt zum Zeichen des Sieges die Arme. Evan holt ein Bonbon aus der Tasche und reicht es ihm mit der Miene des Verlierers. Die anderen Jungen bedrängen den Erwachsenen. Dieser erhebt sich kichernd und verteilt die Bonbons unter ihnen. Anne nähert sich ihrem Gefährten, strahlend vor Freude.

    »Es geht ihr gut.«
    »Siehst du. Ich hab’s dir ja gesagt. Können wir unsere Reise jetzt fortsetzen?«

    Die Sonne steht im Zenit. Wie ein Wirbelwind fegt das Motorrad vorbei und taucht in den heißen Dunst ein, der über dem Asphalt schwebt. Plötzlich verlangsamt es das Tempo und kommt schließlich zum Stehen. Evan setzt einen Fuß auf den Boden und schaltet den Motor aus. Anne schiebt erwartungsvoll den Kopf über seine Schulter.
    »Was ist los?«
    »Ich glaub, ich hab etwas gegessen, das mir nicht bekommt.«
    Er steigt vom Motorrad, nimmt seinen Sturzhelm ab, holt aus dem Rucksack eine Rolle Toilettenpapier und eilt in die Büsche.
    »Aha. Siehst du. Ich hab’s dir ja gleich gesagt.«
    Anne begutachtet die Gegend. Ringsum eine öde, unwirtliche Landschaft, beherrscht vom Gelb der Erde, dem Braun der Dornensträucher und dem Grau der Steine. Einige Dutzend Meter weiter teilt sich die Straße, eine Gabelung. Es gibt keinerlei Hinweisschild. Anne runzelt die Stirn.

     
    »Nanu! Geht es Richtung Rabang nach
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