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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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keinesfalls noch einmal fortfliegen lassen. Ein bedrohliches Grollen umgibt die beiden.

    Auf einem Bastbett fährt Anne aus dem Schlaf hoch. Etwas weiter weg, im Dunkeln, fährt ein Lastwagen los. Hinter ihr eine Stoßstange, auf die zwei große bedrohliche Augen gemalt wurden und an der eine Zitrone und ein Babyschuh baumeln. Anne befindet sich in einer Raststätte für Lkw-Fahrer, unter einem Vordach aus Wellblech, erhellt durch das trübe Licht der an Schnüren aufgehängten Neonröhren. Niemand ist zu sehen außer Evan, der an ihrer Seite fest schläft. Der Ort scheint verlassen. Entsetzt von ihrem bösen Traum, zerrt Anne ihren Rucksack unter dem Bett hervor, öffnet eine der äußeren Taschen, schnappt sich das Telefon und tippt die Nummer ein. Das akustische Signal ist deutlich. Anne wartet, zutiefst beunruhigt. Rose hebt ab. Ehe sie auch nur ein Wort sagen kann, legt Anne los.
    »Mama?!«
    »Anne?«
    »Ja, ich bin’s. Ich hatte gerade einen Albtraum. Lucie ist zum Himmel aufgestiegen, als wäre sie tot, und ich hab mich an sie geklammert, um sie zurückzuhalten. Geht es ihr gut?«
    Rose ist verstimmt.
    »Lucie geht’s gut. Mach dir keine Sorgen. Unglaublich, dass du diesen Traum hattest. Vorhin ist sie mit dem Kopf gegen einen Heizkörper geschlagen. Wir
kommen soeben aus dem Krankenhaus. Die Wunde wurde mit zwei kleinen Stichen genäht. Aber es ist nicht schlimm. Mach dir keine Sorgen.«
    Anne fängt zu schreien an.
    »Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst!«
    Durch Annes Schreie wach geworden, richtet Evan sich ruckartig auf.
    »Du hast ihr nicht den Helm aufgesetzt, stimmt’s?«
    »Doch, doch, das heißt nein. Nach dem Baden wollte sie gehen üben und hielt sich am Wannenrand fest. Dabei ist sie auf den Kacheln ausgerutscht. Aber noch eine …«
    Anne fällt ihrer Mutter ins Wort.
    »Hat der Arzt eine Tomographie gemacht?«
    »Nein, es ist überhaupt nicht schlimm. Er hat gesagt, es sei keinesfalls notwendig …«
    Hysterisch unterbricht Anne ihre Mutter erneut.
    »Doch, das ist notwendig! Du kennst die Vorgeschichte! Du wirst ihn sofort bitten, diese Tomographie zu machen, sonst reise ich auf der Stelle nach Hause und kümmere mich selbst darum!«
    Anne ist in Tränen aufgelöst.
    »Ich flehe dich an, verlang unverzüglich eine Tomographie. Lucie ist in Gefahr. Ich hab’s in meinem Traum gesehn.«
    Evan nähert sich ihr.

    »Anne, beruhige dich. Was ist passiert?«
    Sie schluchzt, außerstande, zwei zusammenhängende Sätze zu formulieren.
    »Es geht um Lucie … Sie hatte einen Unfall.«
    »Gib mir das Telefon. Hallo, hier ist Evan. Was ist passiert?«
    Am anderen Ende weint nun auch Rose.
    »Lucie ist im Badezimmer hingefallen und hat sich den Kopf angeschlagen …«
    Rose schnieft.
    »Es ist nicht schlimm, aber du weißt … Seit dem Unfall ist Anne dermaßen in Panik. Und wir, wir tragen diese Last auf den Schultern … Das ist schwer.«
    »Habt ihr mit dem Neurologen gesprochen?«
    »Natürlich. Wir kommen gerade von ihm. Er sagt, es sei nichts Schlimmes. Aber Anne will unbedingt, dass wir eine Tomographie veranlassen.«
    »Dann tut das auch. Es kann Lucie nicht schaden und wird alle beruhigen.«
    Rose schluckt geräuschvoll.
    »Du hast recht. Sag Anne, dass wir sofort aufbrechen und euch hinterher anrufen.«
    »Danke.«
    Mit einem Tastendruck beendet Evan das Gespräch.
    »Sie fahren zum Krankenhaus zurück und lassen die Tomographie machen.«

    Anne rollt sich auf dem Bett zusammen und weint bitterlich. Evan umfasst ihre Schultern und wiegt sie.
    »Rose wird uns anrufen, sobald sie die Ergebnisse hat.«
    Er küsst Anne zärtlich auf den Hals.
    »Geht es dir ein wenig besser? Was hast du eigentlich geträumt?«

    Früher Morgen. Der Himmel ist blau, klar, makellos, eisig. Anne und Evan sind mit dem Motorrad unterwegs. Sie tragen ihre Integralhelme. Anne, deren Hemd im Wind flattert, betrachtet die zauberhafte, sich ihr darbietende Landschaft, ohne sie wirlich zu sehen. Blühende Fluren und herrliche Reisfelder lösen einander ab. Einige Frauen in farbenprächtigen Saris und mit Krügen und Schüsseln auf dem Kopf durchqueren sie, unbekümmert die Hüften schwingend. Weiter unten, im Tal, sind Gebetsfahnen zwischen Koniferen aufgehängt. Evan tätschelt Annes Schenkel und deutet in deren Richtung, um sie darauf aufmerksam zu machen. Das Motorrad verschwindet in einer Kurve.

    Der Lärm des abbremsenden Motorrads vermischt sich mit den Schreien von Kindern. Langsam fahren Anne und Evan die
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