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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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sicher!«
    Anne legt sich auf den Rücken und schiebt die Hände unter den Nacken.
    »Schade, der Sonnenaufgang muss wunderbar sein.«
    Anne schließt die Augen und atmet tief durch. Kein Geräusch ist zu hören. Es herrscht völlige Stille. Evan schaut auf seine Uhr.
    »Gut, wir müssen aufbrechen. In zwei Stunden wird’s dunkel.«
    Anne reagiert nicht.
    »Und wenn wir ein bisschen Bach hören würden, um die Müdigkeit zu vergessen?«
    Die Augen noch immer geschlossen, seufzt sie, ein Lächeln auf den Lippen.
    »Du und dein Bach! Ich hätte ihn dir nie vorspielen sollen!«
    Beleidigt wendet Evan den Blick ab.
    »Oh! Wir müssen nicht, wenn’s dich langweilt, weißt du.«
    Anne öffnet die Augen und bricht in Lachen aus, als sie seine schmollende Miene bemerkt. Sie packt ihn am
Arm, drückt seinen Oberkörper zu Boden, steigt auf ihn und bedeckt ihn mit Küssen.
    »Ich weiß … wir müssen... nicht …«
    Evan lässt es geschehen, bedient sich dann der gleichen Methode wie seine Gefährtin, indem er sie fest umklammert, auf die Seite wirft und schließlich aufspringt.
    »Los, komm. Beeil dich. Fortsetzung im Hotel.«
    Er kehrt zum Motorrad zurück. Anne bleibt liegen, die Augen zum Himmel gerichtet. Keine einzige Wolke. Hinter ihr springt die Maschine an. Sie nimmt ihren Helm, steht auf und stürzt schreiend zum Motorrad.
    »Los geht’s.«
    Ihr Schrei schallt von den felsigen Abhängen zurück, die sie umgeben.

    Eine große Staubwolke, purpurrot gefärbt von der untergehenden Sonne. Das Motorrad fährt schnell den steilen Pfad längs einer Schlucht hinab. Von hinten umfängt Anne ihren Gefährten mit beiden Armen. Die Wange an seiner Schulter, lauscht sie über den Kopfhörer ihres Walkmans dem betörenden Presto einer Violinsonate von Johann Sebastian Bach. Infolge der Geschwindigkeit verwandelt sich die Landschaft vor ihren
Augen. Farben und Formen verschmelzen zu abstrakten wogenden Borten, die bunt schillern. Evan wiederum hält sich ganz gerade. Die Hände um die Lenkstange geklammert, die Sohlen gegen die Fußrasten gedrückt, konzentriert er sich auf das Gelände vor ihm. Es ist unwegsam, voller Schlaglöcher und Schotter. In Schlangenlinien umfährt die Enfield Bullett geschickt ein Hindernis nach dem anderen.
    Plötzlich taucht hinter einer Kurve eine menschliche Gestalt im Sonnenlicht auf. Evan reißt den Lenker herum, um ihr auszuweichen. Das Motorrad streift sie, dann rutscht es seitlich weg. Evan lässt die Bremsen los, um es wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Maschine richtet sich auf. Zu spät. Das Hinterrad dreht sich bereits im Leeren. Sie stürzen in den Abgrund.
    Anne wird vom Sitz geschleudert, der Kopfhörer weggerissen. Ohne einen Schrei auszustoßen, wirbelt sie mit geschlossenen Augen im Feuer der Sonne. Ihre ausgebreiteten Arme umschließen die erfrischende Luft, die das weiße Hemd aufbauscht und das Haar entflammt. In kerzengeraden Saltos, entbunden von ihrem Gewicht, fliegt sie, vollkommen frei, sich selbst zurückgegeben. Ihr Kopf ist leer, kein Bild, kein Ton von außen hat Platz darin. Ihr Seelenfrieden wird nur noch durch die ruhige und regelmäßige Atmung gewiegt.
    Und wenn dieser Zustand ewig andauern würde?

    Anne ist bewusst, was mit ihr passiert. Aber sie hat keine Zeit mehr, um nachzudenken. Ihre Flugbahn krümmt sich bereits. Ihre Glieder, den Aufprall fürchtend, werden steif.
    Wie wunderbar das ist …
    Sie atmet ein.
    Es auskosten …
    Sie atmet aus.
    Noch einen Augenblick …
    Sie atmet ein.
    Nur einen Augen…
    Im Bruchteil einer Sekunde wird ihr Körper am Fuß der Schlucht zerschmettert, zu einer unförmigen Masse verdreht. Ihr Schädel schlägt gegen einen Felsen, prallt schwach zurück, stößt erneut an den Stein und bleibt schließlich liegen.

Der Bardo im Augenblick des Todes
    Aus der rissigen Ölwanne fällt Tropfen um Tropfen auf den kochend heißen Zylinder. Einer nach dem anderen zischt und verdampft. Die schöne Enfield Bullett ist neben einem kahlen Baum zum Stillstand gekommen. Das verbogene Vorderrad dreht sich weiterhin. Die beiden intakten Sturzhelme, immer noch am verchromten Gepäckträger befestigt, liegen im Staub. Um das Wrack verstreut Kleidungsstücke, eine Toilettentasche, Campingausrüstung, eine CD, der Inhalt des aufgeschlitzten Rucksacks. Evan liegt ausgestreckt zwischen den Trümmern. Betäubt vom Schock, hebt er den Kopf und schaut um sich. Sie sind auf einem Felsvorsprung am Steilhang gelandet, etwa dreißig Meter unterhalb des
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