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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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Weges. Die Erde ist grau, steinig, unfruchtbar - einige Pinien, Dornensträucher, kein einziger Grashalm. Aus einer Akazie ragt reglos ein Bein in Bluejeans hervor. Es ist Annes Bein.

    »Anne, alles okay?«
    Sie antwortet nicht. Evan ruft sie noch einmal, lauter.
    »Anne!«
    Sie reagiert nicht. Evan erhebt sich, um zu ihr zu gehen, aber kaum hat er das Gewicht auf ein Bein verlagert, schreit er vor Schmerz. Er fällt wieder hin, umfasst es mit beiden Händen und beginnt zu brüllen.
    »Verdammt!«
    Ein alter tibetischer Bauer eilt den Hang hinab und schwenkt die Arme.
    »Warte! Beweg dich nicht! Ich komm dir sofort zu Hilfe!« (auf Tibetisch)
    Er läuft zu Anne, die bewegungslos bleibt. Ihre Glieder, dem Chaos des freien Falls preisgegeben, rühren sich nicht von der Stelle. Das zerrissene weiße Hemd entblößt ihre aufgeschürfte rechte Brust. Ihre blutüberströmte Wange ruht auf dem mineralischen Kissen. Ihre halb geöffneten Lider zucken unregelmäßig, mechanisch, ähnlich einer Folge von Morsezeichen. Ihr Blick ist starr, ausdruckslos, gelassen. Über ihr erscheint das Gesicht des alten Tibeters. Er hat eine gegerbte Haut, durchzogen von tiefen Falten. Auf seiner platten Nase sitzt eine uralte Brille. Einer der Bügel ist mit einem durch die Zeit schmutzig gewordenen Heftpflaster zusammengeflickt. Seine großen Augen betrachten Anne
aufmerksam. Sie lächelt ihm zu. Er macht einen liebenswürdigen Eindruck. Seine schwielige Hand hebt ein wenig das blutfeuchte Haar und untersucht die Verletzung. Eine lange Schnittwunde dehnt sich vom Scheitelbein bis unter die Schläfe aus.
    Hinter ihnen kriecht Evan heran. Er schreit.
    »Holen Sie Hilfe!! Bitte, holen Sie Hilfe!!«
    Der alte Mann scheint ihn nicht zu hören. Konzentriert wühlt er in seiner Umhängetasche und nimmt ein benutztes Taschentuch heraus. Erneut schiebt er das Haar beiseite und betupft sorgsam die Ränder der Wunde. Das rohe Leinen saugt die scharlachrote Flüssigkeit auf. Anne schließt die Augen und atmet schwer aus. Der Tibeter hält inne, wartet, bis ihre Atmung sich beruhigt. Äußerst vorsichtig teilt er die beiden Fleischlippen. Zwischen den zerrissenen Hautflächen sind kleine, leuchtend weiße Stücke mit Blut vermischt: Knochensplitter vom Schläfenbein.
    Endlich ist Evan bei ihnen. Erschöpft, schweißgebadet, das Gesicht staubbedeckt, macht er eine letzte Bewegung aus der Hüfte und wirft seinen Arm nach vorn, um den Fuß des alten Mannes zu ergreifen. Festgehalten, schreckt der Bauer zurück.
    »Hören Sie … bitte … in der Tasche... dort …«
    Evan holt Luft und weist mit dem Finger auf das verunglückte Motorrad.

    »Darin ist ein Verbandsbeutel …«
    Der alte Mann schaut Evan direkt in die Augen und wiegt sacht den Kopf. Er versteht nicht, was der andere ihm sagt.
    Panisch zeigt Evan erneut in Richtung des Motorrads.
    »Medizin, Medizin.«
    Der Tibeter wirft einen Blick auf das Motorrad, wendet sich dann Evan zu und schüttelt den Kopf.
    »Es ist kaputt, dein Motorrad. Damit kann man nichts mehr anfangen.« (Auf Tibetisch)
    »Evan?«
    Annes Stimme ist schwach, sanft. Evan stützt sich auf die Ellbogen und nähert sich ihr.
    »Ja, Anne … Ich bin da.«
    Sie deutet ein Lächeln an.
    »Evan … Wie spät ist es?«
    Er schaut kurz auf seine Armbanduhr. Sie funktioniert nicht mehr, zeigt 17 Uhr 15.
    »Es ist halb sechs.«
    »Nein …«
    Anne kann kaum sprechen. Sie schließt wieder die Augen, öffnet den Mund und schnappt nach Atemluft.
    »Nicht hier... Bei uns.«
    Evan ballt die Fäuste, um sich zu beruhigen, und rechnet schnell.

    »Neun Uhr morgens bei uns.«
    Mit geschlossenen Lidern lächelt Anne ihm abermals zu.
    »Lucie frühstückt.«
    Evan streicht ihr behutsam über die Haare.
    »Ja.«
    Der alte Mann fasst ihn an der Schulter und legt den Finger auf den Mund. Evan schenkt ihm keine Beachtung und wendet sich wieder Anne zu.
    »Ich werd den Verbandsbeutel holen. Bin gleich wieder da. Einverstanden?«
    Evans Worte sind undeutlich. Anne hört nicht mehr gut. Sie schlägt die Augen auf. Auch ihr Sehvermögen hat nachgelassen. Sie blinzelt und kneift die Lider zusammen, um den Blick zu schärfen. Es ändert nichts. Evan bleibt verschwommen.
    »Einverstanden.«
    »Okay, ich geh los. Dauert nur wenige Minuten.«
    Das trübe Gesicht über ihr verschwindet. Anne ist blass geworden, ihre Atmung schwer und tief. Der alte Mann hat es bemerkt. Dennoch wahrt er die Distanz, beobachtet Evan, der sich entfernt. Dieser wählt den kürzesten
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