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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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Flüssigkeit aus der Nase. Doch ungeachtet dieser Spuren des Leidens strahlt sie etwas Friedliches aus. Sie scheint ruhig und gelassen.
    Auf der anderen Seite des Feuers, im Schneidersitz, rezitiert der alte Mann seine heiligen Sprüche, während die Perlen der Gebetsschnur durch seine Hand gleiten und der Oberkörper leicht vor- und zurückschwingt.
    »Höre mir aufmerksam zu, ohne dich ablenken zu lassen. Das, was man als Tod bezeichnet, ist nun eingetreten. Du wirst bald ein strahlendes Licht sehen. Hier nennen wir es ›das klare Licht‹. Dieses Licht hat keine Quelle, kein Alter. Es kommt von nirgendwo, aus dem Nichts. Ohne Ursprung, ohne Ziel kann es nicht sterben …«
    Ein seltsamer Schimmer breitet sich um Annes Leichnam aus. Ihre Kleidung, ihre Haut, ihre Muskeln, ihre Knochen werden allmählich transparent, sodass die
inneren Organe hervortreten. Evan und der alte Mann sehen es nicht.
    »... Dieses Licht hat Prüfungen bestanden, aber es wurde nicht beeinträchtigt durch das Böse, dem es begegnete. Es hat auch die Wahrheit kennengelernt, aber selbst dadurch wurde es nicht verändert. Es ist in jedem von uns, in jedem Wesen und an jedem Ort. Dennoch kann niemand es sehen. Betrachte es genau. Dieses Licht ist die einzige Wirklichkeit. Es ist das Wichtigste überhaupt, das du in dir trägst. Konzentriere dich. Bleib offen, leer und rein wie dieses Licht. Erkenne dich darin wieder und sei endgültig frei.«
    Eine weißliche, dickflüssige Substanz sammelt sich langsam in Annes Gehirn und rinnt dann abwärts durch ihren ganzen Körper. Dabei erfüllt sie ihn mit einem weißen Glanz, der ein Organ nach dem anderen auslöscht. Gleichzeitig sammelt sich eine zweite, diesmal rote Flüssigkeit in der Gebärmutter, steigt alsbald Richtung Kopf und tilgt auf ihrem Weg die Harnblase, den Grimmdarm, den Dünndarm, die Bauchspeicheldrüse, den Magen, die Nieren, die Leber. Schließlich treffen beide Flüssigkeiten in Höhe des Herzens zusammen. Kaum miteinander in Berührung, färben sie sich schwarz. Durch diese Kontamination breitet sich diese Dunkelheit in umgekehrter Richtung zu den Gliedmaßen aus. Absorbiert von der Finsternis, zerfällt der
Leichnam Zentimeter um Zentimeter, bis er völlig verschwindet. Stille.

    In der Finsternis taucht ein Lichtkreis auf. Daraus löst sich eine zarte Gestalt. Sie hält sich aufrecht. Es ist Anne. Rasch wird das Licht heller, durchflutet den Raum mit einer sanften, eindringlichen Klarheit. Umhüllt von Licht, lächelt Anne ein wenig. Ihre Nasenlöcher erweitern sich. Sie atmet tief ein, bemüht, diesen Moment, seinen Geruch, seinen Gehalt in sich aufzunehmen. Auf ihrem Gesicht zeichnet sich ein Hauch von Entzücken ab.

    Ein loses Reisigbündel fällt nahe dem Feuer herab. Die Flammen sind erloschen. Die Glut aber bleibt hartnäckig. Der alte Mann nimmt einen Zweig und schürt sie.
    Auf der anderen Seite der Feuerstelle schlottert Evan vor Kälte. Er hat sich zusammengerollt, den Rücken gegen Annes Leichnam gelehnt. Er ist immer noch wach, den Blick geistesabwesend ins Leere gerichtet. Der Tibeter geht um das Feuer, zieht seine Jacke aus, kniet sich vor Evan und bedeckt ihn damit.

    »Sie sollten ein bisschen schlafen. Der Tag wird lang sein.«
    Evan schüttelt kaum den Kopf, wendet den Blick nicht ab und antwortet murmelnd.
    »Lassen Sie mich in Ruhe.«
    Der alte Mann erhebt sich wieder, zufrieden darüber, dass er einige Worte austauschen konnte.
    Anne ist bis zu den Schultern mit einem Schlafsack zugedeckt, als sollte sie vor der Kälte geschützt werden. Ihre Haut hat sich gespannt: Die Falten auf der Stirn sind verschwunden, die Winkel der Lider gestreckt. Die ersten Sonnenstrahlen spiegeln sich im dichten Schleier, der die Hornhaut ihrer Augen bedeckt. Ihre geschwollene Zunge hat vom Mund Besitz ergriffen. Unten am Hals ist ein bläulich-rotes Mal aufgetaucht. Ungeachtet des Todes verändert sich ihr Körper.
    Der Bauer setzt sich direkt hinter ihren Kopf. Er hebt einen Zweig auf, zieht aus seiner Tasche ein Messer und beginnt, ihn murmelnd zu entrinden.
    »Wenn dir das klare Licht erscheint, wird dein Geist völlig leer sein, befreit von seinen Erinnerungen, seinen Leidenschaften und Wünschen. Dieses Licht, das dich mit Freude erfüllen wird, ist dein ursprünglicher Geist. Wie dieses Licht kennt dein Geist weder Geburt noch Tod. Wie dieses Licht kann dein Geist jene Leere, jene Freude bewahren. Begreife das und konzentriere dich.
Du hast die Gelegenheit, dich vom
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