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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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hellbraunen Flüssigkeit, eine Untertasse, garniert mit einem Löffel voll blutrotem Püree, eine gräuliche Zuckerdose sowie zwei Teller, angefüllt mit Öl, worin zwei Spiegeleier und zwei verbrannte, mit Fett durchtränkte Toasts schwimmen.
    Anne betrachtet angewidert das Tablett. Angesichts ihrer Miene muss Evan schallend lachen.
    »Hm, das alles sieht ja wirklich lecker aus.«
    Anne hebt den Kopf.
    »Ganz meine Meinung.«
    »Huhu! Vergiss nicht, wir sind nach wie vor in Indien. Schau dich nur einmal um.«
    »Das ist kein Grund, um krank zu werden.«
    Anne führt die Untertasse an ihre Nase und beschnuppert die blutrote Masse.
    »Das ist Ketchup.«
    Evan greift sich mit schneller Bewegung einen Teller. Er hebt ihn wie ein Ziborium in die Höhe und stellt ihn dann hingebungsvoll auf den Tisch. Nimmt einen tropfenden Toast und taucht ihn langsam ins Eigelb, das aufplatzt, ausläuft und sich mit dem Öl vermengt. Genüsslich rührt er das Gemisch um, verspeist den Happen und stöhnt vor Vergnügen.
    »Hm, schmeckt köstlich. Du solltest es probieren.«

    Anne verzieht das Gesicht. Evan bricht wieder in Lachen aus und spuckt einen Brei auf seinen Teller.
    »Igitt, du bist ekelhaft!«
    Evan hüstelt und gluckst.
    »Verzeih.«
    Er beißt erneut in seinen Toast. Mit vollem Mund sagt er: »Los, iss, das ist eine örtliche Delikatesse.«
    Anne schüttelt unwillig den Kopf.
    »Ich weiß, gemessen an dem, was du schon in dich reingeschlungen hast, ist das hier wie Kaviar, aber ich hab da andere Erfahrungen gemacht als du.«
    Sie führt eine Tasse zum Mund und berührt mit den Lippen vorsichtig die Flüssigkeit. Sofort überkommt sie ein Brechreiz. Wieder lacht Evan laut auf.

    Das Blattwerk der Bäume filtert eine Unzahl gleißender Sonnenstrahlen. Im Schatten mehrerer Eukalyptusbäume schreitet eine Gruppe von nackten jainistischen Mönchen langsam voran und fegt sorgfältig den Asphalt. Blitzschnell rast eine Enfield Bullet an ihnen vorbei und wirbelt eine Staubwolke auf. Auf dem Motorrad sitzen Anne und Evan und tragen Kopfhörer als Sturzhelme. Ihre Lederjacken sind weit geöffnet. Den Kopf nach hinten geneigt, breitet Anne die Arme aus
und schlägt mit den Flügeln wie ein Vogel. Vorn lenkt Evan, den Kopf im Rhythmus der Musik hin und her wiegend, das Gefährt. Auf der Fahrbahn liegen Weizengarben verstreut, junge, unbekümmerte Menschen gehen Hand in Hand spazieren, ein Bauer auf dem Fahrrad transportiert Käfige mit Geflügel. Evan hupt, ehe er ihn überholt. Ein zweites, sehr nahes Hupen überrascht Anne. Sofort senkt sie die Arme, um sich an Evans Bauch festzuhalten. Ein mit Heu vollbeladener Lastwagen fährt links an ihnen vorbei und schert rasch wieder ein, um einem entgegenkommenden Bus gerade noch auszuweichen. Der Laster passiert in hohem Tempo eine Gruppe alter Frauen, die sich am Straßenrand ausruhen. Etwas weiter laden Männer die Fracht eines verunglückten Pick-ups auf einen Karren. Beim Vorbeifahren dreht Anne sich um. Im Graben nahe dem aufgeschlitzten Wrack liegt ein Toter, bedeckt mit einem blutbefleckten Laken. Einige Raben hüpfen um den Kadaver herum. Niemand beachtet ihn. Anne jedoch kann den Blick nicht von ihm wenden. Hinter dem davonbrausenden Motorrad verliert sich der verunglückte Pick-up rasch in der Ferne.

    Unter den gesenkten Lidern bewegen sich die Augäpfel auf und ab und bilden zitternde Schwellungen entlang der zarten Hautschicht. Mit geschlossenen Augen und nackten Füßen balanciert Anne fiebrig über ein Seil, das straff gespannt ist zwischen zwei riesigen Bäumen an einer Landstraße. Über ihr schwebt Lucie lächelnd durch die Luft wie ein mit Helium gefüllter Ballon. Anne hält sie am Fuß fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Plötzlich rufen sie ferne Stimmen.
    »Anne! Anne!«
    Mehrere Dutzend Meter tiefer, winzig, ihre Eltern, Evan und Henry (der etwa fünfzigjährige Mann auf dem Foto), die mit den Armen gestikulieren, um sie anscheinend vor einer Gefahr zu warnen. Anne öffnet die Augen, wird von einem Schwindel erfasst und gerät ins Schwanken. Ihre Hand lässt Lucies Fuß los, die Kleine schwebt davon. Anne kippt zur Seite und stürzt schreiend in die Tiefe, zuerst senkrecht wie ein Stein, dann mit einer sanften Drehung wie ein Blatt. Sie sinkt langsam auf ein blutbeflecktes Laken, das von ihren Angehörigen gehalten wird, steigt aber blitzschnell wieder zum Himmel auf. Im Nu kehrt sie zu ihrer Tochter in der Luft zurück. Sie klammert sich an sie und will sie
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