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Auszeit

Auszeit

Titel: Auszeit
Autoren: Marco von Münchhausen
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bildet, das diesen Menschen sein Leben lang begleitet. Möglicherweise hat diese Person später ein massives Problem, wenn sie in einem Lokal nicht rechtzeitig und angemessen bedient wird. Es kann nun beispielsweise vorkommen, |213| dass Mr. X eines schönen Abends gutgestimmt mit seiner Angebeteten in einem Restaurant Platz nimmt, aber der Kellner nicht innerhalb einer für Mr. X angemessenen Zeit kommt, um nach den Wünschen zu fragen. Als er schließlich auftaucht, ist Mr. X möglicherweise schon verstimmt. Muss er danach auch noch lange auf die bestellten Getränke warten, dann kann es sein, dass er sich so aufregt, dass er dem Ober eine Szene macht und wutentbrannt das »miserable« Lokal verlässt, gefolgt von seiner völlig verblüfften Begleitung. Möglicherweise gerät er auch noch mit ihr in einen Streit, weil sie gewagt hat, sein Verhalten etwas »übertrieben« zu finden, oder gar noch den »armen« Kellner in Schutz zu nehmen – und der Abend ist ruiniert. Schuld – so Mr. X’ tiefste Überzeugung – ist allein der »idiotische« Kellner. Er dagegen ist ein – sogar von seiner Angebeteten – unverstandenes »Opfer« der äußeren Umstände, verloren und ohne Hoffnung, keinesfalls aber schuld daran. Seinem besten Freund wird er die ganze Sache vielleicht am nächsten Tag entsprechend berichten, also sein »Opferlied« singen. Und wenn der Freund ihn nur allzu gut versteht und ihn bestätigt, ist der nächste Sturz in das Loch im Gehsteig schon vorprogrammiert.
Zweite Stufe: Die immer noch unbewusste Wiederholung desselben Dramas. Noch immer verschließt Mr. X die Augen, ist erschüttert, dass ihm die gleiche Geschichte schon wieder passiert. Vielleicht wundert er sich sogar, warum immer er so etwas erleben muss, während alle anderen in den Lokalen rechtzeitig bedient werden oder sich über die »Achtlosigkeit« und Langsamkeit der Kellner gar nicht aufzuregen scheinen. – Solange man den eigenen Anteil und das zugrunde liegende Muster nicht erkennt und demzufolge weiterhin die Schuld und Verantwortung abschiebt, ist die Wiederholung dieses Trauerspiels fast vorprogrammiert. Bei manchen Menschen zieht es sich dann wie ein roter Faden durchs ganze |214| Leben. Es sei denn, man schafft – von selbst oder mithilfe ehrlicher Dritter – den nächsten Schritt auf die …
Dritte Stufe: Die Stufe der Erkenntnis. Erst, wenn man weiß, was man tut, kann man anfangen, etwas anderes zu tun. Die einzige Möglichkeit, den geschilderten Teufelskreis zu durchbrechen, ist es, sich des (automatisierten) Vorgangs bewusst zu werden, die eigenen Muster und Ursachen zu erkennen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, das heißt, nicht mehr andere oder die Umstände dafür verantwortlich zu machen. Auf dieser Stufe verstummen demzufolge auch die Opferlieder. Nun wird man versuchen, sich beim nächsten Mal anders zu verhalten, also das Loch im Gehsteig zu vermeiden – doch: obwohl man es sieht, fällt man doch noch einige Male aus Gewohnheit hinein. Denn Erkenntnis allein heilt noch nicht, und in Stresssituationen oder wenn wir nicht ganz wach sind, übernehmen die alten Muster wie ein Autopilot wieder das Steuer. Dies ist aber nicht mehr so gravierend: Wenn Mr. X die Augen offen hat, weiß er, was gerade geschieht, und kann erkennen, dass es sein Verhaltensmuster ist, das sich wieder austoben will, und er kann daraus sofort Konsequenzen ziehen, also die Strategie und sein Verhalten ändern. Möglicherweise entschuldigt er sich nach ein paar Minuten beim Kellner, den er kurz vorher »zur Schnecke« gemacht hat. (Was dann vielleicht auch bei seiner Begleiterin Eindruck machen könnte, denn etwas selbst zu erkennen und sich zu entschuldigen, erfordert Souveränität und innere Größe) – Und mit jedem Mal wächst die Chance, es das nächste Mal anders zu machen:
Vierte Stufe: Wieder taucht das Muster auf, doch man kann es nun mit dem neuen Bewusstsein dafür umgehen. Das wäre der Tag, an dem Mr. X im Lokal wahrnimmt, dass er gerade wieder anfängt, sich über den unaufmerksamen Kellner ärgern zu wollen, erkennt, was gerade abläuft, es vielleicht schafft, |215| darüber zu lächeln, und ganz freundlich bittet, etwas bestellen zu können, bis er eines Tages, meist unbewusst (!), die …
Fünfte Stufe erreicht hat: Das Muster greift nicht mehr. Er sitzt im Lokal, nimmt gelassen zur Kenntnis, dass der Ober ihn anscheinend noch nicht bemerkt hat oder sich mit einem Kollegen gut unterhält, und macht mit ruhigem Ton
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