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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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noch immer das Buch halten, werden das Bild im Kreis der Kinder weiterreichen, von links nach rechts, doch hinter dem Buchrücken ist niemand mehr. Ich bin die Hand des Nichts. (Erzähl den Hasen nicht, wo ich mich verstecke.)
    Hier sind die Bilder. Komm näher und schau genau hin: Ausreißer und Buchausleiher, Engel und Auerochsen und Schauspieler, schlaue Schurken und kleine, rauflustige Helden. Beschwer dich jetzt, dass das Mädchen dir die Sicht verstellt hat. Schau genau hin und frag, warum der Künstler alles falsch gemalt hat.
    Praktisch bin ich hier schon ein Gespenst, blass und spukend hinter meiner Theke, und ich habe begriffen, dass es das ist, was mit Protagonisten geschieht, wenn sie nicht mehr im Zentrum der Handlung stehen, wenn sie ihr größtes Abenteuer bereits hinter sich haben. Das ist es, was aus dem verrückten Hutmacher wird, der bösen Stiefschwester, dem verbrauchten Genie. Sie sitzen an einem leeren Tisch und erinnern sich an den Tag, an dem etwas Außergewöhnliches durch die Stadt wehte.
    Für einen kurzen Augenblick im letzten Oktober war ich wieder Teil der Geschichte – oder vielleicht hatte mich die Geschichte einfach eingeholt. Als ich von der Arbeit nach Hause fuhr, wurde ich wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Polizei angehalten. Sogar in diesem Moment dachte ich, alles sei vorbei und Ian habe mich verraten. »Haben Sie eine Ahnung, wie schnell Sie gefahren sind?«, fragte der Polizist. So schnell, dass Sie es kaum glauben würden, hätte ich am liebsten gesagt. So schnell, dass ich seit Monaten nicht aufgehört habe zu fahren, nicht einmal im Schlaf. Ich öffnete das Handschuhfach, um meine Papiere herauszuholen, und fünftausend kleine Restaurant-Pfefferminzbonbons fielen auf den Boden und auf den Beifahrersitz und sprangen vom Schaltknüppel auf meinen Schoß. Ian hatte sich also auf eine lange Reise vorbereitet. Wir hätten es noch eine Woche länger ausgehalten, wir hätten über die Felder nach Kanada fahren können, halb verhungert, aber mit frischem Atem. Ich reichte dem Polizisten meine Papiere und spürte, wie sich mein Herz verkrampfte und meine Knochen in eine Million Splitter zerbrachen: Zumindest eine Zeitlang hatte Ian geglaubt, wir würden es schaffen und niemals zurückfahren.
    Komm für die letzte Seite näher heran. Schieb das Mädchen beiseite, das dir die ganze Zeit im Weg ist. Frag endlich, ob es ein Happy End oder ein trauriges Ende gibt, ob die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Schau dir die letzten Worte an. Schau, ob du es wissen kannst. Und frage erneut: Renkt sich am Ende alles wieder ein?
    Ich weiß es nicht. Ich weiß es ganz einfach nicht. Es kommt darauf an, was du mit Ende meinst. Das Ende meiner Geschichte oder seiner? Hier ist alles, was ich weiß: Ich suche ihn noch, in den Tiefen meines Computers, und ich erwische immer wieder diesen Klempner in Cape Cod. Aber wenn er an die Öffentlichkeit tritt, falls er an die Öffentlichkeit tritt, dann werde ich in der Lage sein, herauszufinden, was aus ihm geworden ist. Es gibt eine Million Wege, wie es gut ausgehen könnte. Es gibt eine Million Wege, wie es sehr schlimm ausgehen könnte. Er müsste jetzt fünfzehn Jahre alt sein, und vielleicht muss ich nicht mehr sehr lange warten, um es zu erfahren. Ich sage mir immer wieder, dass wir uns heutzutage nicht mehr ganz aus den Augen verlieren können. Es gibt kein Sibirien mehr.
    Wälze dich auf dem Teppich und schau zur Uhr. Frag dich, ob diese Geschichte wahr war.
    Hier sind die letzten Bilder. Hier sind die hilfreichen Bildlegenden. Hier sind ein paar hoffnungsvolle letzte Worte für alle, die wie Ian und ich nicht widerstehen können und zuerst die letzten Sätze lesen. (Vielleicht habe ich sie in die Irre geführt, so wie ich selbst in die Irre geführt wurde – denn tief im Herzen war ich immer davon ausgegangen, dass unser Mut eine Art Versicherung dafür wäre, dass uns ein Happy End erwartete, wenn wir es bis dahin schaffen würden. Aber vielleicht wurde ich gar nicht in die Irre geführt. Denn wer kann schon sagen, dass es nicht noch wahr wird?)
    Hier, geduldige Zuhörer, ist er, euer beruhigender Epilog. Stellt ihn euch glücklich vor. Stellt ihn euch vor, wie er sich im Kreis dreht. Wenn ich das nicht glauben würde, könnte ich morgens nicht aufstehen. Stellt ihn euch vor, wie er die Listen acht Jahre lang versteckt. Stellt euch seinen Himmel vor, wo er nach Herzenslust durch Charaktere und Bücher schwebt. (Träumen wir
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