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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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kannte, waren Romane. Das ließ mich innehalten und darüber nachdenken, dass all meine Bezugspunkte Fiktionen waren, dass meine Geschichten Lügen waren.
    Am Schluss der Listen hatte ich etwas Persönliches schreiben wollen, eine Notiz, eine Aufmunterung, irgendetwas, aber ich konnte es nicht. Der Stift weigerte sich, noch einmal das Papier zu berühren.
    Denn das ist mir nach diesem chaotischen Frühjahr, nach dem quälenden Sommer klargeworden: Ich glaube nicht länger daran, dass ich Menschen retten kann. Ich habe es versucht und habe versagt, und auch wenn ich sicher bin, dass es da draußen in der Welt Menschen gibt, die über diese besondere Gabe verfügen, ich bin keiner von ihnen. Ich bringe alles nur durcheinander. Aber was Bücher angeht: Ich glaube noch immer, dass Bücher einen Menschen retten können.
    Ich glaubte, dass Ian Drake seine Bücher bekommen würde, so wie jeder Süchtige seine Droge bekommt. Er würde sein Kindermädchen bestechen, er würde sich nachts aus dem Haus schleichen und ein Fenster der Bibliothek einschlagen. Er würde sein Meerschweinchen verkaufen, um Geld für Bücher zu haben. Er würde unter seiner zeltartig aufgestellten Decke mit einer Taschenlampe lesen. Er würde die Matratze aushöhlen und mit Taschenbüchern füllen. Sie konnten ihn zu Hause einsperren, aber sie würden ihn nicht davon überzeugen, dass die Welt nicht doch viel größer war. Sie würden sich wundern, warum sie ihn nicht brechen konnten. Sie würden sich wundern, warum er lächelte, wenn sie ihn auf sein Zimmer schickten.
    Ich wusste, dass ihn Bücher retten konnten, weil ich wusste, dass sie es bisher getan hatten, und ich kannte Menschen, die von Büchern gerettet worden waren. Es waren College-Professoren, Schauspieler, Wissenschaftler und Dichter. Sie gingen zum College, saßen auf dem Boden der Wohnheime und tranken Kaffee, verblüfft, dass sie endlich Seelenverwandte gefunden hatten. Sie waren immer ein bisschen unmodern gekleidet. Ihre Namen waren für ewig auf den rosafarbenen Ausleihkarten in den Laschen all der vergessenen Bände festgehalten, die es in jedem Bibliotheksuntergeschoss in Amerika gibt. Wenn die Bibliothekare faul oder nostalgisch oder klug genug waren, würden diese Namen dort für immer bleiben.

Wenn einem Buch ein Epilog fehlte,
lieferte Ian oft einen eigenen
    Ich bin der »Mortal«, die Sterbliche am Ende dieser Geschichte. Ich bin das Monster am Ende dieses Buches. Ich bin hier allein zurückgelassen und muss alles verarbeiten, und ich schaffe es nicht. Wie sollte ich alles einordnen? Welches Etikett klebe ich auf den Buchrücken? Ian hat einmal vorgeschlagen, es sollte zusätzlich zu Etiketten für Krimis, Science-Fiction und Tierbücher auch Etiketten für Bücher mit einem Happy End geben, für Bücher mit einem traurigen Ende und für Bücher, die den Leser dazu animieren sollen, das nächste Buch der Reihe zu lesen. »Es sollte Etiketten geben, die wie große Tränen aussehen«, hatte er gesagt, »zum Beispiel für Wo der rote Farn wächst. Sonst ist das nicht fair. Es könnte doch sein, dass man das Buch in der Öffentlichkeit liest, und dann wird man ausgelacht, weil man weint.« Doch welche Warnung könnte ich auf die Geschichte von Ian Drake kleben? Vielleicht ein kleines blaues Schild mit einem Fragezeichen. Mit gekreuzten Fingern. Einer Münze in einem Brunnen.
    Doch im richtigen Leben werde ich für solche blauen Aufkleber nicht mehr zuständig sein. Ich werde mich nicht mehr entscheiden müssen, ob ein Buch in den Bereich Fantasy gehört oder ob es geeignet ist für die zarten Jugendlichen von Hannibal. Nach einem Sommer zu Hause fand ich eine neue Arbeit – weit weg von Hannibal und Chicago, das war das Einzige, was mir wirklich wichtig war. Hier leihen sich Zwanzigjährige Bücher über feministische Theorien zum Vegetarismus oder zu zeitgenössischer Hemingway-Kritik aus, und keiner verlangt von mir die Erlösung. Sie brauchen mich nur, um ihre Bücher einzuscannen und zu stempeln, einzuscannen und zu stempeln. Ich bin zufrieden. Ich bin stabil. Zumindest bin ich ortsgebunden.
    Sollte ich je in die Bibliothek von Hannibal zurückkehren, wird es als Geist sein. Ian hat immer geglaubt, dass es in der Bibliothek spukte, und vielleicht hatte er ja recht. Ist es nicht das, was sich alle Bibliothekarinnen wünschen, zumindest im Kino und in den Klischees? Ruhe, Unsichtbarkeit, nichts anderes als eine schwebende Wolke aus altem Bücherstaub. Meine Hände werden
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