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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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Noch wahrscheinlicher war allerdings, dass man ihn schon auf dem Weg von der Bushaltestelle entdeckt hatte.
    »Wo war er? Ist alles in Ordnung mit ihm?«
    »Niemand sagt etwas, außer, dass er ausgerissen war. Es ist auch nicht gerade etwas, worüber der Hannibal Herald in allen Details berichtet. Es geht hier ja nicht um einen Kuchenbasar oder eine Ehrung bei den Pfadfindern.«
    »Stimmt. Warum hast du mich nicht angerufen?«
    »Seine Eltern haben ihn anscheinend von der Schule genommen, und niemand hat ihn gesehen, seit er wieder hier ist. Er ist auch nicht in der Bibliothek aufgetaucht. Ich habe mit einer Lehrerin aus seiner Schule gesprochen, der Lehrerin, die immer zu uns kommt.«
    »Sophie?«
    »Vielleicht. Sie sagte, seine Eltern hätten einen Tag nach seiner Rückkehr in der Schule angerufen und bekanntgegeben, sie würden ihn jetzt zu Hause unterrichten lassen. Die Lehrerin war ein bisschen durchgedreht, ich glaube, sie hat Angst, sie würden ihn in einer Kammer einschließen.« Er machte eine Pause, ich wagte nicht, zu reagieren. »Sie hat mir erzählt, dass er im letzten Jahr mit einer Schürfwunde auf der Stirn in die Schule gekommen war, weil sie ihn als Strafe für irgendetwas eine ganze Nacht lang auf dem Teppich mit dem Gesicht nach unten knien ließen. Ich glaube, dass du mit deinen Vermutungen über ihn recht hattest.« Ich fragte mich, ob es sich bei dieser Lehrerin wirklich um Sophie handelte, denn mir gegenüber hatte sie immer behauptet, es gehe ihm gut. Aber das war damals, als er noch die Schule und die Bibliothek gehabt hatte.
    Ich sagte nichts. Plötzlich konnte ich nicht akzeptieren, dass ich nicht wusste, wo Ian war und was er tat. Ich stellte mir vor, wie er in einer Kammer kniete oder wie er seine Sachen packte, um sich für ein Jahr zu Pastor Bob zurückzuziehen. Und der Gedanke machte mich ganz fertig, dass, wären diese Dinge vor zwei Monaten passiert, es zwar schrecklich und falsch gewesen wäre, dass es aber, da sie jetzt passierten, nicht nur schrecklich und falsch, sondern auch meine Schuld war. Denn ich hatte ihn nach Hause fahren lassen.
    Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mich stellen können. Ich hätte Rocky, der Polizei und den Drakes sagen können, dass Ian keine Schuld hatte, dass ich ihn gegen seinen Willen mitgenommen hatte. Aber das brachte ich nicht fertig, oder zumindest tat ich es nicht. Und ehrlich gesagt, ich glaube kaum, dass es etwas geändert hätte. Ich glaube noch nicht einmal, dass Ian bei der neuen Geschichte kooperiert hätte. Von allem, was passiert war, war dies das Einzige, wofür ich nicht bereit war, mich schuldig zu fühlen. Es könnte auch das Einzige sein, das mich in die Hölle bringen würde.
    »Ehrlich gesagt«, sagte Rocky, »bis er zurückkam, dachte ich, er wäre bei dir.«
    »Wie bitte?«
    »Lucy, du bist einen Tag später verschwunden. Und du warst verrückt nach ihm.«
    »Rocky«, sagte ich, »ich bin keine Entführerin.«
    »Das weiß ich.« Er klang nicht überzeugt.
    »Vielleicht war er bei diesem Pastor«, sagte ich. »Dieser Typ klingt ziemlich gruselig. Hör zu, morgen gebe ich Loraine Anweisungen für den Sommer. Du weißt, du wirst ihr helfen müssen, ihre E-Mails zu lesen. Und sag ihr, sie soll sich um eine neue Bibliothekarin kümmern. Ich werde meine Sachen irgendwann einmal abholen.«
    »Ruf an, wenn du hier bist.« Ihm war anzuhören, dass er nicht daran glaubte, dass ich je kommen würde.

38
     … und es war noch warm
    Es dauerte zwei Monate, bis ich den Mut fand, nach Hannibal zurückzukehren. Mein Vater hatte Tim jeden Monat einen Scheck für die Miete geschickt, damit sie meine Sachen nicht auf die Straße stellten oder meine Garderobe für ihren Fundus hernahmen. Es war an einem Junitag gegen sieben Uhr abends, und nach einem langen Winter und einem kalten Frühling war es endlich warm geworden. Ich fuhr langsam in die Stadt hinein, schaute mir alle Menschen an, an denen ich vorbeikam, alle Kinder, die vor dem Eissalon standen, und erkannte niemanden.
    Inzwischen kannte ich dank des reißerischen Artikels im St. Louis Post-Dispatch Ians Adresse. Langsam, aber nicht zu langsam fuhr ich die Straße entlang. Ich wusste nicht, was er tun würde, wenn er aus dem Fenster schauen und mein Auto erkennen würde. Vielleicht würde er lachen, oder er würde schreiend zu seiner Mutter laufen oder aus dem Haus rennen und sich auf meine Motorhaube werfen. Das Haus war hübsch und weiß, im Vorgarten blühten Pfingstrosen und Iris. Im
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