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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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ist mein Geliebter ! Ich wollte dich nicht erschießen, Baby! Du weißt, dass ich dich brauche!«
    Die anderen Schauspieler hatten ihre Dummys im Stich gelassen und umringten sie, um mit ihr zu weinen, zu lachen und wild um sich zu schlagen, alle außer Tim. Ich beobachtete ihn, wie er allein im gelben Licht Luft in seine Puppe pumpte, als könnte er der Plastikfigur Leben einhauchen, als könnte er das Blut zirkulieren lassen. Einen Augenblick lang glaubte ich, er könnte es wirklich.

39
    Tim ex Machina
    In meinem Auto blies mir die gekühlte Luft gegen die Wangen, und ich fühlte mich plötzlich wachgerüttelt, zum ersten Mal seit Monaten. Es war ein Gefühl wie damals im Sommer, im College, als ich mein Bein gebrochen hatte und erst, als ich die Schmerzmittel absetzte, merkte, wie benebelt ich in den Wochen davor gewesen war.
    Was ich dieses Mal vergessen, was ich übersehen hatte, war nicht, was ich getan hatte oder die daraus entstehenden Konsequenzen oder die nackte Realität von Hannibal, in das ich für kurze Zeit zurückgekommen war, sondern dass ich die Fähigkeit besaß, zu planen. Um es in der Sprache dieser schrecklichen Selbsthilfebücher zu sagen, aus denen Rocky und ich uns während der Inventur immer vorgelesen hatten: Ich war so lange als Fisch im Strom getrieben, bis ich vergessen hatte, dass ich schwimmen konnte.
    Also holte ich tief Luft und plante, dann fuhr ich zum Einkaufszentrum von Hannibal, wo die Läden noch offen waren. Dort fand ich, wie erwartet, einen christlichen Buchladen, so voller kalligraphischer Schriften, wie Darren Alquist und ich es uns nur hätten erträumen können, und entdeckte ein Magazin, das Der wiedergeborene Teenager hieß, mit einem ekstatischen Skateboarder im Sprung auf dem Cover. Es war perfekt. Ich kaufte zwei Ausgaben, lächelte der rosagesichtigen Dame hinter der Theke zu und fuhr zurück zu meiner Wohnung, wo die Schauspieler im Theatersaal noch immer ihre Puppen retteten. Ich setzte mich an den Schreibtisch und machte eine Liste. Dann machte ich noch sieben weitere Listen. In der oberen Schublade fand ich einen Klebestift und klebte jede Liste einzeln auf jeweils ein Blatt in einem der Magazine, wobei ich aufpasste, dass die eingeklebten Blätter nicht herausragten. Mit meinem Wörterbuch presste ich mein Werk flach. Dann ging ich fröhlich zur Toilette und drückte auf die Spülung.
    Zwei Minuten später war Tim an der Tür, breit grinsend, mit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen, und als er mich umfasste und hochhob, sagte er: »Ich dachte schon, du wärst entführt worden.«
    »War ich auch. Komm rein.«
    »Ich habe die Wasserspülung gehört und gedacht, o Gott, ist das ein Geist? Und alle haben gesagt, ich soll hinaufgehen und nachschauen. Und du bist es! Du bist hier ! Wir hatten keine Probe. Sonst hätte ich dir das Genick gebrochen.«
    »Nein, ich weiß«, sagte ich. »Das war dein Bat-Signal. Ich brauche deine Hilfe.«
    Tim setzte sich auf die Lehne der Couch und wippte mit den Füßen. Er war noch verschwitzt von der Übung, und als er sich durch die Haare fuhr, hinterließen seine Finger nasse Furchen.
    Ich sagte: »Erinnerst du dich an den vermissten Jungen? Der mit Bob Lawson zu tun hatte?«
    »Klar«, sagte er und wollte weitersprechen, ließ es aber sein. Mein Gesicht musste Bände gesprochen haben, und mir war es egal. Ich saß auf der Couch, mit angezogenen Beinen, und schaute ihn an. Ich wollte mit dem Anfang beginnen, wusste aber nicht, was der Anfang eigentlich war. Der Tag, an dem ich Ian kennengelernt hatte, oder der, an dem ich ihn in der Bibliothek zwischen den Bücherstapeln entdeckt hatte? Also begann ich in der Mitte. Ich sagte: »Eines Tages hat er mir so einen Origami-Jesus gebracht.«
    Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Zumindest die Kurzversion. Ich weiß nicht, warum, aber ich wusste, ich konnte ihm vertrauen: weil er Dramen liebte, oder vielleicht einfach, weil er Tim war, oder weil ich in ihm das Kind sah, das in der Bibliothek auf dem Boden hockte und Kanicula las und genauso mit den Füßen wippte wie jetzt. Aber ich hatte recht. Ich konnte ihm vertrauen. Ich hätte ihm auch vertrauen können, wenn Ian noch bei mir gewesen wäre, noch immer vermisst, noch immer gebeugt unter seinem übervollen Rucksack.
    »Das ist ja unglaublich«, sagte er immer wieder. »Es ist ganz einfach unglaublich. Wir dachten, du bist schlicht eine freundliche Bibliothekarin. Und nun bist du so eine Art Bürgerwehr und, verdammt, du
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