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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen
Autoren: Rebecca Makkai
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Erdgeschoss gab es ein großes Fenster, aber die Gardinen waren zugezogen. In der Einfahrt stand ein weißer Geländewagen. Am Ende der Straße drehte ich um und fuhr erneut am Haus vorbei. Auf dem Rasen standen keine Demonstranten, auf der Veranda kampierten keine Gebetsgruppen, keine vorwurfsvollen, Steine werfenden Klassenkameraden. Ians Gesicht drückte sich nicht gequält an das Fenster seines Zimmers. Keine Schreie waren zu hören, keine Hallelujas, keine lauten Akkorde von christlichem Rock. Am Straßenrand standen Recycling-Container. Ich fuhr weiter. Was konnte ich sonst tun?
    Ich parkte hinter der Bibliothek, die seit einer Stunde geschlossen war. Mein Schlüssel passte noch. Die Sonne stand tief am Himmel und schickte breite gelbe Strahlen durch die Fenster. Einiges hatte sich geändert: Neue Bücher lagen vorne aus, der Fünf-Cent-Wagen war verschwunden. Ich zog meine Schuhe aus, bevor ich hinunterging, denn es fühlte sich angenehmer an, leise zu sein. Die Sitzpolster waren anders arrangiert. In diesem Licht lag eine dünne Staubschicht auf allem. Ich nahm den braunen Bär aus der Puppenkiste und fuhr damit über die Kanten der Regale, dann holte ich mir einen Stuhl mit Rollen, um die oberen Fächer der Regale mit Romanen zu erreichen, die aussahen, als hätte schon lange niemand mehr abgestaubt. Halb erwartete ich, Ian würde von unten, aus der Wissenschaftsabteilung, meinen Namen flüstern. »Ich lebe schon seit Monaten hier«, würde er sagen. »Warum hast du so lange gebraucht?«
    Ich sah, dass Heidi aus dem Leim ging. Ich nahm die Rolle mit selbstklebender Buchbinderleinwand aus der Schreibtischschublade und setzte mich mitten auf den blauen Zottelteppich. Es war ein gutes Gefühl, dazusitzen und zu arbeiten. Es war hier unten fast dunkel, die Lampen waren ausgeschaltet, und die Sonne fiel nur schräg durch die Fenster oben an der Decke, in Straßenhöhe. Über mir sah ich Hunderte von Spinnweben, die tagsüber wohl unsichtbar waren und sich zwischen den Balken der Holzdecke und den Fenstern spannten. Sie glänzten zwischen den Regalen und dehnten sich über unglaublich lange Strecken, als hätte die Spinne vom Fenstersims aus einen großen, selbstmörderischen Sprung gemacht und den Seidenfaden wie einen Fallschirm hinter sich hergezogen. Ich dachte an die Spinne Charlotte und die Seidenraupe in James’ Pfirsich und konnte verstehen, warum Ian in der Bibliothek hatte schlafen wollen. Es musste wie im Himmel gewesen sein.
    In jener Nacht, in ihrer Stille und Ruhe, begriff ich zum ersten Mal, dass ich offenbar einen größeren Teil meines Lebens aufgegeben hatte, als ich wollte. Ich begriff, dass ich nie eigene Kinder haben könnte, denn wenn ich welche hätte, würde mir vollkommen und endgültig klar sein, was es bedeutete, sie zu verlieren. Je mehr ich sie liebte, umso größer wäre der Schmerz, und ich wusste, dass ich unfähig sein würde, mit dem Schmerz der Drakes zu leben. Nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht überleben würde.
    Ich werde die Fünfunddreißigjährige sein, die ihren Freund von sich stößt. Ich werde bei Partys von wohlmeinenden Freunden mit lebenswichtigen Informationen über die biologische Uhr gehetzt werden. Ich werde ein Buch schreiben: Was du erwarten kannst, wenn du nichts erwartest.
    Vielleicht ist es ja das Beste, ein für alle Mal die Großartige Dynastie der Hulkinows zu beenden. Mein Vater ist der einzige Hulkinow, der noch übrig ist, zumindest der einzige in Amerika, und ich bin sein einziges Kind. Das Erbe von Flucht, Verrat und Fabulieren wird es nicht mehr geben. Zumindest nicht mehr in dieser speziellen Familie. Hulkinow war zu Hull verkürzt worden, dann blieb nichts mehr übrig. Tausende von Jahren russischer Winter, russisches Essen, russische Überlebenskraft, bis eines Tages ein Kind in Amerika geboren wurde. Ende.
    Schließlich stand ich auf und untersuchte den Schreibtisch nach Beweisstücken meiner Existenz hier in der Bibliothek. Die Hälfte der Schubladen war leer, und die anderen waren mit Unterlagen und Pullis von jemand anderem vollgestopft. Am Schluss fand ich meine Sachen in einem Karton unter dem Tisch. To-do-Listen, Kugelschreiber, Thermoskanne, Ians Origami-Mail von Weihnachten (noch immer zusammengefaltet), Hustenbonbons. Ich packte alle Dinge aus dem Schrank, die ich noch haben wollte, in die Kiste, und bevor ich ging, nahm ich einen Kugelschreiber und suchte das älteste Exemplar von Der kleine Hobbit , das wir
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