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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn
Autoren: Georg Cadeggianini
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nachdem drei Geschichten vorgelesen, alle Zähne geputzt (derzeit 131 ), die Tagesschau ( 20  Uhr) mal wieder verpasst war.
    Erst beim Gin.
     
    »Hast Du Eis?« Simon zieht zwei grüne Flaschen aus seinem Rollköfferchen.
    »Müsste ich schon haben.«
    Mein alter Schulfreund scannt das Küchenbord. Er sieht halbzufrieden aus, nimmt schließlich zwei Kristallgläser aus dem Regal, bauchig.
    »Vielleicht einen Gimlet, der Herr? Tanqueray No. Ten?« Ich nicke, nicht etwa, weil ich verstehe, wovon der Typ da spricht, oder dem zustimme, sondern weil mir zu nicken die einfachste Antwort zu sein scheint. »Ja, gern.« Aus dem vollgestopften Tiefkühlfach zerre ich Silikon-Eiswürfelformen: Eine gelbe mit Enten, eine rote mit Früchten. »Andere gibt’s nicht.«
    Das Eis knackt, als Simon es in die Drinks schubst. Er rührt, nippt, nickt zufrieden: »Der Hemingway-Drink.« Wir lassen uns in die Sessel fallen.
    »Und?«, frage ich. »Wie ist das so, in deinem Leben?«
    Tokio, Takt seines Lebens, Chefallüren, Frauengeschichten. Er führt ein schnelles, aufregendes Leben. Mit Geld und Spielraum, mit Abenteuer und Sicherheit und jeder Menge guter Anekdoten. Mittendrin, beim dritten Gimlet, unterbricht er sich. Mitten in einer Geschichte, mitten im Satz sogar. Er schaut auf, schwenkt seinen Drink in meine Richtung, die Birnen- und Erdbeer-Eiswürfelformen in seinem Glas klickern gegeneinander.
    »Und du? Warum hast du …« Er macht eine Pause, nimmt noch einen kleinen Schluck. Es ist ein rhetorischer Schluck, nur dazu da, den nächsten Satz noch ein wenig hinauszuzögern. Warum druckst er so rum? Schämt er sich? Oder braucht er einfach noch mehr Anlauf für den nächsten Satz? Mehr Karacho.
    »Ich meine …« Er schluckt noch mal. Dann: »Warum hast du dir dein Leben so kompliziert gemacht?«
    Kompliziert. Es ist wie der Moment bei einer guten Privatparty, wenn die Polizei das dritte Mal auftaucht und die Sicherung rausdreht. Sound und Stimmung ersterben, Menschen machen sich Gedanken über den Heimweg. Und dann bin ausgerechnet ich der Pechvogel, von dem die Polizisten – nachdem sie die Musikanlage in Gewahrsam genommen haben – die Personalien aufnehmen.
    »Kompliziert«, hämmert es in meinem Kopf, und ich vergrabe ihn erst mal im Wacholder-Lime-Juice-Enteneis-Gesöff. Ja, denke ich, wahrscheinlich ist es so. Kompliziert.
    Das macht die Masse, sagt mein Kopf.
    Als ich selbst noch im Kindergartenalter war, gab es den Ausdruck »Milchzahl«. Das bedeutete deutlich mehr als unendlich und konnte zum Beispiel wie folgt eingesetzt werden:
    »Du bist voll blöd.«
    »Und du unendlich.«
    »Und du … du bist milchzahlblöd!« Das war dann das Ende der Fahnenstange. Danach wurde geprügelt.
    Das macht die Masse, sagt mein Kopf jetzt, ein gutes Vierteljahrhundert später noch mal: sechs Kinder. Das ist milchzahlviel.
    Um mit dem Rad im Gänsemarsch über die Kreuzung zu kommen, brauchen wir inzwischen zwei Ampelgrünphasen. Unsere Obstschale ist größer als eine Satellitenschüssel. In unserem Flur steht ein Laubsack: für Dreckwäsche, 270  Liter. Bei Festen werden wir schon mal vorab, bevor überhaupt die Einladungen verschickt werden, gefragt, ob wir an dem oder dem Tag Zeit haben. Denn dann, so die Gastgeber, müssten sie anders disponieren, dann könnten sie nicht so viele andere einladen. Wir besitzen mehr Pausenbrotboxen als Fernsehprogramme. Wir belegen die Hälfte des Fahrradkellers in einem 32 -Parteien-Mietshaus. Und mit der Digiknipse bekomme ich mit ausgestrecktem Arm nicht mehr alle aufs Familienfoto-Selbstporträt.
    Wann also wird Menge zur Unmenge? Wann wird eine Anzahl zur Unzahl, zur Milchzahl? Wann erreicht der Alltag die kritische Masse?
    Simon hat recht. Es ist kompliziert. Satellitenobstschüssel? Wäschelaubsack? Tupperarmada? Masse macht wahnsinnig. Vielleicht musste dieser Mann, der da jetzt vor mir sitzt, mein alter Schulfreund, 20  Jahre lang getrennt von mir in einem Paralleluniversum leben, musste dann extra aus Tokio anreisen, das Pastachaos durchleben, alles nur, um jetzt zu vollstrecken, um diese kleine, feine Schuldzuweisung in ein Wort zu gießen: »Kompliziert.« Dieser Mann hat recht.
    Streptokokken, Fahrdienst, Mathefünfer. Tagein, tagaus. Zur Erholung gibt’s dann Urlaub, der keiner ist. Und nachts liegen ein, zwei, drei Kinder im Doppelbett mit rum. Was heißt hier Doppelbett? Einssechzig, nicht mehr. Könnt ihr das lesen, Kinder? E-I-N-S-S-E-C-H-Z-I-G. Wenn wir da alle zusammen
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