Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn
Autoren: Georg Cadeggianini
Vom Netzwerk:
paar Momenten gefräßiger Stille.
    »Ich war eine der drei Besten beim Englischtest«, erzählt Gianna. Ich brumme.
    Giannas Ehrgeiz nimmt manchmal absurde Züge an. Zum Beispiel morgens, wenn sie ihre Zahnspange möglichst lang drin behält oder mittags, wenn sie mit kloßiger Stimme erzählt, wie sie bei der Schulfahrradprüfung auf den zweiten Rang abgedrängt wurde, obwohl sie doch … Oder abends, wenn sie unbedingt wieder ihren Zauberwürfel in Ausgangsposition drehen muss. Und natürlich die der Geschwister auch noch.
    Gianna ließ nicht locker und sah sich Nachmittage lang verwackelte Youtube-Filmchen an, in denen irgendwelche Nerds auf Englisch Drehregeln erklären, bis sie den Würfel aus jeder Position wieder farbenrein bekam. In weniger als vier Minuten.
    Ich habe mir vorgenommen, Superlative zu ignorieren, sie unkommentiert zu lassen. Ehrgeiz ist zwar toll, weil er unsere Talente ernst nimmt, weil er Ziele setzt, überhaupt irgendwas will. Ehrgeiz kann aber gerade für Kinderseelen tragisch sein, die Steilvorlage für Enttäuschungen.
    Etwa beim Judo. Gianna, Elena, Camilla und Lorenzo sind alle im Judoverein. Das liegt weniger daran, dass Judo der neue Trendsport und die vier vom Fieber gepackt wären oder missionarische Schwarzgürtel-Eltern hätten, sondern einfach daran, dass eines der Kinder damit mal angefangen hatte, keine ampellose Straße zwischen unserem Zuhause und der Judohalle liegt und es sich ganz gut in den Stundenplan integrieren ließ. Als Camilla mit Fechten anfangen wollte, sagte ich: »Geh doch mal zum Judo mit.« Lorenzo meinte, er wolle Boxen lernen, aber so richtig. Ich sagte: »Judo.« Und als Elena mit Yoga kam, da meinte ich: »Yoga, warte, Yoga, das hört sich so ein bisschen an wie …«
    Individualismus ist doch immer begrenzt, bei uns vielleicht noch ein bisschen mehr als bei anderen. Es ist dasselbe Prinzip wie bei der Themenwohnung, nur übertragen auf das Nachmittagsprogramm.
    Aber zurück zum Ehrgeiz.
    Beim letzten Judo-Nikolaus-Turnier kämpften Gianna und Elena in derselben Gewichtsklasse. Als einzige Mädchen. Gianna gewann jeden Kampf, nicht mit links, sondern mit Hartnäckigkeit. Elena keinen einzigen, dafür jedes Mal knapp und elegant.
    Dann kam es zum Schwesternduell.
    Es war spannend, sie schoben sich über die Matten, keine bekam die andere richtig zu fassen. Auf einmal flüsterte Viola: »Ich habe Gianna gesagt, sie soll Elena gewinnen lassen. Aber unauffällig.« Ich schaute entrüstet: »Das geht doch nicht. Das macht sie kaputt.« Aber Gianna lag bereits über Elenas Schulter: Ein Ippon-Seoi-Nage. Es machte Wumms, und Gianna knallte auf die Matte.
    Am Ende stand Gianna auf dem Treppchen: Silbermedaille. Sie schaute tapfer, kämpfte mit dem Frust. Sie, die bisher jeden Kampf gewonnen hatte. Natürlich hätte sie auch Elena besiegt. Und klar: Das ist unfair.
    Dann wurden Sonderpreise verteilt, keine Medaillen mehr, sondern riesige Pokale. Für den jüngsten Judoka etwa oder den kürzesten Kampf. Und dann gab es noch einen für die beste Technik. Für einen mutigen und hervorragenden Ippon-Seoi-Nage wurde ausgerufen: Elena Cadeggianini. Das war der Moment, als Gianna die Gesichtszüge entglitten.
    Selbst wenn Elena aufgefallen wäre, dass Gianna sie absichtlich hatte gewinnen lassen und sie also nur wegen Giannas Großmut den Ippon-Seoi-Nage gepackt und den Pokal bekommen hatte: Elena vergisst so was umgehend wieder. Nicht aus bösem Willen, sondern aus einer Art automatischem Selbstschutz. Sie scheint eine besonders dicke Haut gegen jegliche Unbill des Lebens zu haben: Was sie angreift, geht sie nichts an. Elena steuert ihre Wahrnehmung mit großer Intuition im Dienste des eigenen Seelenheils. Das hat was von Realitätsverweigerung, könnte man pathologisieren. Neidhammelei, sage ich. Denn natürlich lebt jeder von uns in seiner eigenen Truman-Show, ob wir dabei glücklich sind oder nicht, ist dem Produzenten herzlich egal.
     
    Simon dreht seine Gabel in den Nudeln. Die Kinder fordern Nachschub, vor allem mehr Parmesan. Es ist laut. Gionatan isst wie immer: mit dem größten Eifer und der geringsten Trefferquote. Immer mal wieder fällt ein Glas um. Immerhin gibt es heute keinen Frischkäse, den Jim an die Fensterscheibe schmieren könnte. Es wird gelacht, geringfügig gebrüllt. Es gibt Geschrei, als ich die Nachspeisenforderung verneine. Es gibt Geschrei, als ich Lorenzo an seinen Abräumdienst erinnere. Zur Ruhe kommen wir erst später wieder. Erst,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher