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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn
Autoren: Georg Cadeggianini
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schönes Leben? Meinst du das? Hier Tanzen, da Familienidylle. Von allem ein bisschen und immer nur die Rosinen?«
    »Schon irgendwie«, sagt die Frau über Eck. »Und deine Frau stellst du in den Regen.«
    Ich blase die Backen auf, nicke ein wenig vor mich hin. Eckige, unabgefangene Bewegungen. Wie ein besoffenes Huhn, das Körner aus der Luft lesen will, picke ich in die Abendgesellschaft hinein, jede Silbe ein Kopfnicken: IN  – DEN  – RE  – GEN .
    Ich könnte jetzt Vorteile einer Großfamilienfernbeziehung aufzählen. Ich könnte davon erzählen, wie toll das alles ist. Davon, länger arbeiten zu können, ohne das mulmige Gefühl, eigentlich schon längst woanders sein zu sollen und zu wollen. Davon, keinen Büro-Stress mit nach Hause zu bringen, weil der sich irgendwo zwischen Harburg und Ingolstadt in der ICE -Air-Condition verfängt. Und dann bin ich da, ein Blankomann, ohne Programm: zwei Wochen München.
    Denn zwei Wochen Hamburg ist für mich auch die Chance, Arbeit zu beschränken, mal weniger arbeiten zu können; die Arbeit nicht so übergriffig werden zu lassen. Wie viel Vaterchance hat man denn sonst so? Wer voll arbeitet, ist eben auch voll weg. Da ist es schon fast egal, wo man wohnt: Ich wäre kaum vor acht zu Hause, käme sogar zu spät für die Gutenachtgeschichte.
    Ich könnte davon erzählen, dass manchmal das, was auf den ersten Blick alles so viel komplizierter macht, eben auch eine Entlastung sein kann. Manchmal ist es wirklich einfacher, wenn der andere weg ist und man allein verantwortlich ist und ein eigenes System entwickeln kann. Dass es manchmal entlastend ist, wenn da niemand ist, mit dem du dich abstimmen musst; niemand da ist, der die Windelcreme woandershin legt, genau da, wo man sie nie findet; bei dem die Kinder andere Sachen dürfen als bei dir. Dass es manchmal einfacher ist, wenn gar nicht erst zur Debatte steht, ob sich vielleicht nicht auch der andere darum kümmern könnte: das Kind trösten, zum Alpenverein bringen, nachts aufstehen, die Hausaufgaben kontrollieren, vom Kindergarten abholen. Und selbst für den Fall, dass etwas nicht geschieht, dass etwas schiefläuft, kann das einfacher sein. Denn dann ist ganz klar, wer daran Schuld ist: der Andere, weil der verflucht nochmal nicht da ist, nie da ist.
    Ich zumindest empfinde das so. Wenn Viola ein paar Tage ganz weg ist, ist das natürlich sehr anstrengend und trotzdem auch sehr befriedigend. Und wunderschön, wenn sie wiederkommt.
    Ich könnte vom Sehnsuchtsstau schwärmen, davon, dass Beziehungen doch Amplituden brauchen, Ausschlag, Wellenbewegungen. Davon, dass es nichts Schrecklicheres gibt als so einen Abfahrtssonntag, an dem ich zwar noch da bin, aber mit dem Kopf schon weg: noch mehr als eine ganze 2 -Wochen-Hamburg-Periode vor mir. Und davon, dass es nichts Schöneres gibt als die letzten paar Meter in München bis zur Haustür. Freitagnacht, der Rollkoffer dröhnt auf dem Asphalt: Startbahn in den Himmel.
     
    Die Frau über Eck holt schon wieder Luft. Ich schenke noch mal Wein ins Glas, einen winzigen Schluck: für den Kampf.
    »Und Rosinenpicker? Was sagst du? Warum machst du das? Warum lässt du Frau und Kinder zu Hause und haust ab nach Hamburg?«
    »Weil es einfach so ist. Punkt. Lebenskonzepte werden nun mal nicht einfach gefeuert, sondern immer nur ersetzt.«
    »Was soll das heißen?«
    Ich nehme noch mal einen Schluck, dann sage ich: »Das Karma ist kein Girokonto.« Ich bin ein wenig zu laut, murmele leise dazu, dass es im richtigen Leben eben keine Cash-Group gebe, keine Festgeldzinsen, keine Bausparverträge. »Man kann nicht einfach hier ein bisschen scheiße sein und das durch Tollsein dort wieder ausgleichen. Einbuchen, ausbuchen, auf den Zinsen hocken – das funktioniert nicht.«
    Die Frau über Eck schnaubt, dann grinst sie.
    »Warum bist du jetzt, in diesem Moment nicht gerade in München?«
    »Wrong but strong.«
    Sie lacht. Immerhin: sie lacht.
     
    Später in der Nacht sitze ich noch ein wenig an den Böcken. Alle waren irgendwie verschwunden, durch die Haustür, hinter die Zimmertüren, sogar die Rhabarberfußmatte war weggegangen – nur ich sitze noch an der quergelegten Tür auf Tapezierböcken in meinem unbewohnten Leben.
    Ich spüre es: Hannibal naht, er wird bald wieder auftreten. Sich aufblasen, die letzte Chance verkünden, von irgendwas. Alleinsein? Siebtes Kind? Russland?
    »Lass ihn doch stampfen«, sagt Patachon. »Hauptsache nicht normal!«, und schwimmt zufrieden in
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