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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn
Autoren: Georg Cadeggianini
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gelb, das Filmfest türkis. Jede Farbe lässt sich in die Übersicht einblenden oder ausblenden. Normalerweise habe ich in Hamburg nur meine grüne Ansicht offen, vielleicht noch gelb, mehr nicht, das andere Leben ausgeblendet. Aber manchmal luge ich dann doch rüber nach München. Und jetzt steht da für morgen früh: » 9  Uhr 15 , Lorenzo HNO .« Was ist da los?
     
    Silke kümmert sich um das Hauptgericht. Sie wohnt jetzt in dem Zimmer, das früher dem Fliegenfischer gehört hat. Silke ist Biochemikerin, promoviert gerade, irgendwas mit Kristallen. Immer mal wieder stehen weiße Schraubgefäße in unserem WG -Kühlschrank.
    »Proteine«, erklärt Silke.
    »Und warum sind da Totenkopfsticker drauf?«, frage ich.
    »Ich muss los«, sagt sie.
    Silke weiß, warum das Wasser aus dem Nudeltopf der perfekte Soßenverlängerer ist (Stärke), und dass Mütter, die ihr Kind zwar mit dem iPhone hantieren lassen, die Milch aber auf keinen Fall in der Mikrowelle erwärmen wollen (»Da sind doch Strahlen drin, die empfindlichen Vitamine!«), keine Ahnung haben.
    Silke schläft mit keinem Mann, mit dem sie nicht zuvor gemeinsam einen Aidstest gemacht hat. Sie mache dann immer gleich einen mit, sagt sie, das stifte Vertrauen.
    Eigentlich würde ich sie gern mal fragen, wie viele Aidstests sie denn schon so hinter sich hat. Das traue ich mich aber nicht. Silke meint, das alles habe absolut rein gar nichts damit zu tun, dass sie Biochemikerin ist. Ich stelle mir vor, wie man gemeinsam irgendwo in einem Kliniktrakt auf Plastikstühlen hockt und auf den Sex-Persilschein wartet.
    »Ich finde, das bin ich jedem anderen schuldig«, sagt Silke. »Ich weiß ja sonst nicht mal, wenn ich das Virus in mir trage.« Und das mit den Plastikstühlen sei Mist, sagt sie, nachdem ich sie mal drauf angesprochen habe, weil das Ergebnis per Post komme und auch erst nach einer Woche.
    Und ich stelle mir das wieder vor: Man sitzt beim gemeinsamen Frühstück, isst Hörnchen, trinkt frisch gepressten Orangensaft, vielleicht ein Ei. Und dann kommt die Post. Ah, nett, das Gesundheitsamt schreibt: Mal gucken, wie der Aidstest so gelaufen ist.
    Silke ist pragmatisch. Als es neulich im Labor überraschend irgendein neues Stipendium zu feiern gab, hat sie den Sekt kurzerhand in den Minus- 80 -Grad-Kühlschrank gestellt, neben Gewebepulver, Adenosin-Triphosphat und Glycerinstocks.
    »Bloß beim Rausholen muss man aufpassen, dass man nicht ans Metall kommt, sonst gibt’s Kältebrandblasen.«
    Silke ist wirklich pragmatisch. Aber ohne die Magie und Absurdität des Augenblicks zu verpassen.
    Silke hat zum Beispiel vergangenes Jahr von ihren Freunden einen Cheeseburger-Adventskalender geschenkt bekommen. An jedem Morgen in dieser feierlichen und andächtigen Zeit öffnete Silke ein Türchen und hinter jedem Türchen wartete ein Cheeseburgergutschein auf sie, gültig nur für diesen einen Tag. Und so aß Silke ihren täglichen Burger manchmal schon auf dem Weg zur Arbeit.
    Silke hat eine Donnerstagsfreundin, mit der sie sich nie verabreden muss. Nur ab und zu absagen, wenn sie nicht kann. Ansonsten treffen sie sich donnerstags. Neulich ist die Uroma ihrer Donnerstagsfreundin gestorben. Das Einzige, was sie aus dem Nachlass retten konnte, waren sechs Kristallgläser und eine Flasche Grand Marnier. Und am nächsten Donnerstag waren von dem Nachlass gerade mal noch drei Kristallgläser übrig und eine Silke, die mit ihrem Körper das Sofa in unserer Küche nicht mehr traf.
     
    Die Frau über Eck hat neue Fragen, das sehe ich schon auf dem Weg zu meinem Platz. Sie nickt mir zu, sie ist präpariert, ein wenig aufgeregt, wenig sexy, eigentlich kein bisschen sexy. Es gibt diese Schnappatmung bei Menschen, bei denen irgendwas nach oben drängt, das sie mit Gewalt zurückhalten, runterschlucken.
    Ich schenke mir neuen Wein ein. Man kann sich alles schöntrinken. Auch schlechten Wein. Die Frau über Eck läuft über.
    »Wo sind deine Kinder eigentlich jetzt gerade, in diesem Moment?«
    »Im Bett.«
    »Im Bett?«
    »Ja.«
    »Und wer passt auf sie auf?«
    »Unser Telefon.«
    »Euer Telefon?«
    »Genau.«
    Das Tolle daran, sich alles aus der Nase ziehen zu lassen, ist, dass sich ein Parallelstrang entwickelt, ein Spiel: Selbst Mini-Infos kann man immer weiter kürzen, bis hin zur Nullinformation. Problem allerdings ist die schlechte Laune, die das Nasenspiel beim anderen verursacht. Man kann sie, wie Oliver vielleicht sagen würde, als sportliche Herausforderung lesen, sie
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