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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn
Autoren: Georg Cadeggianini
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in der Nacht, bei einsetzendem Nieselregen, jeder eine Rute in der Hand. Oliver holte aus, dreimal, dann warf er, holte wieder ein.
    »Elf Uhr, elf Uhr, elf Uhr, ein Uhr«, feuerte er sich selbst an, während er erneut auswarf. Die Elf-Uhr-Bewegungen sind Schwungholer, die Ein-Uhr-Bewegung Auswurf. »Jetzt du. Denk an das Ziffernblatt. Dein Kopf ist auf zwölf.«
    Ich stellte mich breitbeinig in die feuchte Nachtwiese, holte aus.
    »Elf Uhr, elf Uhr, elf Uh…« Mein Wurf ging schief, und zwar schräg nach hinten. Ich landete im Hasenstall der Nachbarskinder, verhedderte mich. Die Rute bog sich.
    »Hängt da eigentlich Sirgi dran?«
     
    Oliver hatte uns einmal beim WG -Casting gerettet. Sonst wären wir heute vielleicht alle tot. Es kam ein schlaksiger, langer Mann mit hochgezogenen Schultern, der sich hinsetzte und nichts weiter tat, als auf unseren Küchentisch zu starren, damals noch auf den guten, großen, dunkel gebeizten.
    »Hallo«, sagten wir.
    »Ich bin Holger«, sagte er mit knisternder und gefährlich leiser Stimme. Er rollte das »R« stark, schien jede einzelne Silbe in seinem Mund zu zermalmen.
    Schweigen.
    »Und Holger, was machst du so?«, traute sich Oliver.
    Pause.
    »Ich mache unglaublich gern Risotto.« Bei diesem »R« riss Holger den Kopf hoch, blickte sich nach rechts und nach links um, schob seinen Stuhl weg und stand auf. War der vorher wirklich schon so groß gewesen? Holger stellte sich an unseren Herd. »Risotto nimmt den Raum in sich auf.« Und er fuhr mit seinen hageren Händen langsam durch die Luft, holte sie sich von allen Seiten und knetete sie über unserem Herd. »Den Raum«, sagte Holger. »Hier kann ich mir das sehr gut vorstellen.«
    Holger blieb dort am Herd stehen und schob langsam seinen Kopf mal in die eine Richtung, mal in eine andere, als ob er Duftinformationen empfinge. Keiner von uns traute sich, ein Wort zu sagen. Außer Oliver.
    »Gut, wir überlegen’s uns«, sagte er und drängte Holger mit dem Mut einer inoffiziellen Atommacht aus unserer Wohnung.
    Oliver war es auch, der ein paar Tage später die Tür öffnete, als es klingelte. Dort stand er, Holger, ein paar blaue Abfalltüten übergeworfen.
    »Und, habt ihr’s euch überlegt?«
    Holger ist nicht eingezogen. Dank Oliver.
     
    Oliver arbeitet bei einer Gewerkschaft, in Hamburg war er lange damit beschäftigt, bei einem großen Discounter den ersten Betriebsrat zu gründen. Seit ich ihn kenne, sucht Oliver eine Frau. Zuerst einfach so, eine fürs Bett und zum gemeinsamen Frühstücken. Eine Zeitlang war er mit einer zehn Jahre jüngeren Kassiererin zusammen (»Georg, das ist so schön, so unkompliziert mit der. Da muss man nicht immer reden. Das ist so einfach«). Später mit einer zweiten. Dann ist das mit dem Betriebsrat endgültig gescheitert. Dann war Oliver wieder auf der Suche.
    Diesmal suchte er nach einer »Mutter für seine Kinder«. So hatte er das ausgedrückt. Das klingt nach Witwer. Aber Oliver wollte Familie gründen, Vater werden. Und das hatte seine Perspektive total verändert.
    Jede Frau, die in Frage kam, musste durch den »Bergsteigertest«. So nannte Oliver das. Der Bergsteigertest war ein Gedankenexperiment: Nur wenn Oliver beruhigt allein zum Bergsteigen gehen könnte, war es die richtige Frau, die die Mutter seiner Kinder werden konnte. »Beruhigt« bedeutete für Oliver: Er ist sich ganz sicher, dass seine Kinder in guten Händen wären, selbst wenn er verunglücken sollte. Eine Frau, die den Bergsteigertest nicht bestand, kam für ihn nicht mehr in Frage (oder nur für ganz kurz, zum Frühstücken).
    Kurz bevor Oliver wegzog, nach Köln, nicht zur Mutter seiner Kinder, sondern zur Festanstellung, eines Morgens. Ich wollte gerade duschen, zog mich aus und den Vorhang zur Seite – da standen die Ruten in der Wanne. Oliver war wieder unterwegs gewesen – er, seine Freunde und Sirgi –, hatte die Tiefkühltruhe vollgemacht, seine Ausrüstung gesäubert. X-Files, Parallelwelten. Wann war ich eigentlich das letzte Mal Bergsteigen, allein?
     
    »Lorenzo HNO « steht im Kalender. Ich sitze in meinem Zimmer, bin noch mal schnell verschwunden. Irgendwie war das Hauptgericht immer noch nicht fertig und mein Platz neben der Frau über Eck immer noch der einzig freie.
    Viola und ich, wir haben einen gemeinsamen Online-Kalender. Mit ganz verschiedenen Farben. Ich bin grün, Viola ist violett, gemeinsam sind wir blau, begleitetes Kinderprogramm ist orange, unbegleitetes rot. Geburtstage sind
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