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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn
Autoren: Georg Cadeggianini
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irritiert. So wie jemand, der es sich gerade auf der Terrasse gemütlich gemacht hat – die richtige Zeitung, Sonnenbrille, Latte Macchiato – und in dem Moment, in dem er sich zurücklehnt und vom zurechtgelegten Glück kosten will, vernimmt er das Klacken der Schuppentür von drüben, vom Nachbarn, kurz drauf das leise Quietschen der Rasenmäherräder, wenn das Gerät in Startposition geschoben wird.
    »Alle anderen Brüder zusammen haben immer noch weniger Kinder als wir.« Jetzt wird der Motor angelassen. Ich sehe es ganz deutlich in ihrem Gesicht.
    »Also das mit dem Großfamilien-Gen ist – sagen wir – zumindest vertrackt. Noch dazu: Meine Frau hat gerade mal einen Bruder.«
    Ich könnte noch hinzufügen: Aber immerhin ist sie Ausländerin. Italienerin, verstehst du, die mit den Bambini und so. Aber ich will sie nicht verärgern, schenke lieber Wein nach.
     
    Wir haben eine pinkfarbene, rückenschonende Klobrille. Pinkfarben, weil sie die zwei Frauen aus der WG ausgesucht haben, rückenschonend, weil das gerade im Angebot war. Das Rückenschonende an der Garnitur ist, dass man Brille und Deckel nicht selbst schließen muss, sich also nicht runterbuckeln muss. Es genügt ein kleiner Schubs, und die Garnitur schließt sich in Zeitlupe von selbst: geräuschlos, wahnsinnig smooth und ja: rückenschonend, einfach nur, weil die Scharniere etwas strammer angezogen sind, mit Gummischleifkontakt oder so was. »Soft-Schließ-Komfort« nennt das der Hersteller.
    Ich dachte: So ein Scheiß. Nie im Leben könnte mich jemand überzeugen, eine rückenschonende Klobrillengarnitur anzuschaffen. Inzwischen überlege ich ernsthaft, unsere in München auszutauschen. Ohrenschonend.
    Wie viel in meinem Leben ist so wie diese pinkfarbene Klobrillengarnitur? Wie oft ist es so, dass ich etwas nur dadurch toll finden kann, indem ich es ausprobiere? Wie oft ist mein Leben klüger als mein Kopf? Und vor allem: Was setzt sich warum durch?
    Ich schlage eine Zeitschrift auf, eine von ganz unten aus dem Klostapel. Es ist eine Ausgabe von »Der Fliegenfischer«. Ein Mann mit Ulbricht-Bart und olivgrünen Gummistiefeln, die bis unter die Achseln reichen, kniet am Flussufer und hält einen absurd großen Fisch in die Kamera.
    In meinem Hamburger Leben begegne ich Dingen und Menschen, die ich sonst nie streifen würde, die einfach zu weit weg von meiner Welt sind. Das ist oft nervig, dann nämlich, wenn ich sowieso schon bis oben hin voll bin mit meinem eigenen Leben, keine Kraft habe für Neues. Und doch gefällt mir die Vorstellung, dass selbst dann jemand da ist, der Löcher in meine Welt schlägt: so wie mein Ex-Mitbewohner Oliver, meine jetzige Mitbewohnerin Silke oder Ute. Das Schlimmste ist doch, Fachidiot seines eigenen Lebens zu sein.
    Die Fischer-Zeitschrift hat Oliver dagelassen, als er nach Köln gezogen ist. Zusammen mit einem kaputten Flambierkit (im Küchenschrank), drei profillosen Winterreifen (unter der Treppe) und vier Atlantiklachsweibchen (in der Tiefkühltruhe).
    Als ich mal spätabends in seiner Zimmertür stand, saß er über einen Schraubstock gebeugt, vor sich Fädchen, Federchen, Zängelchen, Lametta, Perlen, Fellstücke.
    »Oliver? Alles okay?«
    »Ich muss noch die türkisschwarze Sirgi binden«, antwortete er, ohne sich umzudrehen. Eine Fliege. Und nein, mit einer Fliege war hier kein Insekt gemeint. Eine »Fliege« ist ein Angelhaken, geschmückt wie ein Weihnachtsbaum.
    Morgen gehe es wieder los, sagte Oliver, ein kleiner Nebenfluss der Skjern Å, irgendwo in Dänemark, sein Geheimplatz: Lachsjagd, und zwar ausgerechnet dann, wenn die Lachse die Flüsse aufsteigen und auf Laichwanderung sind. Dann also, wenn sie eigentlich keine Nahrung zu sich nehmen, auf nichts beißen, dann wird Oliver seine türkisschwarze Sirgi aufs Wasser peitschen. »Sirgi«, so hatte er die Fliege getauft, mit der er letztes Jahr genau an dieser Stelle gleich drei Dinger rausgeholt hatte. Mehr als sonst irgendjemand in dieser Fischerwoche.
    »Sirgi ist die absolute Killerfliege.«
    »Warum ausgerechnet dort? Wenn es da doch so schwierig ist?«, fragte ich.
    »Sportlicher Ehrgeiz«, sagte Oliver. »Am angefütterten Fischteich kann’s ja jeder.« Und jetzt hatte Oliver noch ein paar Varianten der Erfolgsfliege gebunden, immer dasselbe Sirgi-Muster.
    »Aber top secret.« Immerhin würde er dieses Jahr das gelbe Trikot tragen, Titelverteidigung. »Immer schön sportlich bleiben.«
    Ein paar Minuten später standen wir im Hof. Mitten
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