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Uschi Zietsch

Uschi Zietsch

Titel: Uschi Zietsch
Autoren: Sternwolke und Eiszauber
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Rotnebel

    Kelric saß versunken auf seinem Lieblingsfelsen und spielte mit den Wanderblumen, wie er es immer tat: Er öffnete sie mit seinem Geist und schloss sie wieder, gab ihnen die schillerndsten Farben und verlieh ihnen Namen.
    Jener Felsen war der höchste Punkt des Plateaus, auf dem das Dorf in den Bergen erbaut worden war, und er bot den besten Blick in die Bergwelt hinaus. Es war noch so früh, dass Kelric sehen konnte, wie die Sonne aus ihrem Bett in den Tälern über die Berge hinaufkletterte und die vertrauten Morgennebel mit ihren Strahlen rot wie Blut färbte; die solchermaßen getönten Wolkenschleier ergossen sich Wasserfällen gleich über die Felsen und die an sie angeschmiegten Häuser und ließen die ganze Umgebung in einem verzauberten Traum aus verhüllter Röte und verborgener Lebendigkeit versinken.
    Kelric liebte diese Stunde am Morgen am meisten, denn er saß ganz allein hier auf seinem Felsen, spielte mit den Blumen und begrüßte die Sonne, während er auf die Geräusche seiner erwachenden Eltern im Ersten Haus am Platz wartete. Er war immer derjenige, der dem neuen Tag als Erster entgegensah, danach kamen seine Eltern, der ältere Bruder und die jüngeren Geschwister; schließlich, wie auf ein verabredetes Zeichen hin, erwachte das ganze Dorf zu hektischer und fröhlicher Betriebsamkeit: Den Ziegenhirten, die auf die Sommerweiden aufbrachen, wurde das Frühstück bereitet und der Segen zugesprochen; sie liefen winkend an Kelric vorbei, der ihnen lächelnd nachsah; nur seinen Bruder grüßte er laut. Bald darauf vertiefte er sich wieder in die Beschäftigung mit seinen Blumen, denn der Alltag hinter ihm interessierte ihn nicht mehr; schließlich geschahen jeden Tag immer die gleichen, unveränderlichen Vorgänge: Es wurde zum Frühstück gerufen, Hunde begannen sich zu balgen, in der Schmiede wurde das erste Eisen gehämmert, am Brunnen standen die Frauen an. Kelric wusste, dass er noch Zeit hatte, er brauchte die Himmelszeichen nicht zu beobachten, um zu wissen, wann es soweit war, zur Morgenmahlzeit zu erscheinen.

    Und plötzlich war alles anders. Es lag nicht am Wetter, das nun zu einem herrlichen Sommertag aufklarte, und auch nicht an den Blumen, die in langsamer Flucht aus Kelrics strapaziösem Machtbereich davon zu wandern versuchten. Es lag ganz einfach daran, dass er auf einmal nicht mehr allein war und, was sich als noch schlimmer erwies, dass er auch noch beobachtet wurde. Mit einer raschen, zornigen Bewegung der Hände fuhr er herum und verharrte überrascht in einer unbequemen, fluchtbereiten Stellung; die dunklen Augen schwärzten sich vor Ablehnung und Misstrauen, das erfrischend anzuschauende Kindergesicht verschloss sich. Fünf Männer unterschiedlicher Statur und Größe und unbestimmbaren Alters standen am Fuß des Felsens, die von Kapuzen halb verborgenen Gesichter zu Kelric gewendet. Sie trugen alle dieselben dicken Umhänge, die vor der Nebelfeuchtigkeit, der Kälte der Nacht und vor neugierigen Blicken schützten; ihr Aussehen mochte bis auf die Hautfarbe und die Haare unterschiedlich sein, aber die mystische Ausstrahlung, jene geheimnisvolle Aura der Macht, ließ erkennen, dass sie die Zauberer von Laïre waren, die Heiligen Wanderer, und Brüder im Geiste.
    Kelric starrte finster aus großen dunklen Augen auf die Männer hinab, die ihn ebenso schweigend fixierten; er fühlte sich gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen und versuchte, sein natürliches Misstrauen Fremden gegenüber deutlich genug zu zeigen, damit sie endlich wieder gingen. Als die Zauberer seinen stummen, jedoch nicht weniger dringlichen Wunsch keineswegs beachteten, ging auch er dazu über, sie der Reihe nach zu mustern; er schaute in drei alte und zwei junge Gesichter, die er alle für recht bemerkenswert in ihrem Ausdruck hielt. Aber es wuchs auch eine große Unruhe in ihm, als er in allen Augen, die bei jedem von tiefem Blau waren, eine geheimnisvolle, herzumschließende Trauer sah, die einen uralten, entsetzlichen, für Menschen niemals zugänglichen und zu erfassenden Namen hatte. Diese sonderbare Erkenntnis erschreckte ihn so sehr, dass er seinen Blick abwandte und scheinbar gedankenlos die Felsen betrachtete. Als wäre ein Bann von ihnen genommen, begannen die unheimlichen Männer plötzlich zu sprechen, leise nur und wenige Worte, aber mit Stimmen, die man nicht so schnell wieder vergisst.
    »Faszinierend«, hörte Kelric eine alte weiche Stimme, und aus dem Augenwinkel schielend sah er,
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