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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts
Autoren: R Lappert
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Haut, die kleinste Bewegung tat weh.
    Der Mann griff in die Dunkelheit hinter sich und holte eine Flasche mit Wasser hervor. Er schraubte sie auf und setzte sie an Tobeys Lippen. Weiße schiefe Zähne standen in seinem Mund, um den ein schütterer Bart wuchs. Der erste Schluck strengte Tobey so an, dass er würgte und hustend nach Luft rang, die Lungen voller Nägel. Der Mann wartete, das Gesicht noch immer ohne Regung. Schließlich trank Tobey die halbe Flasche aus. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht, jetzt sah er den Stoffbeutel, der am Boden lag und aus dem der Mann ein Fladenbrot nahm, um es ihm vor den Mund zu halten. Tobey schüttelte den Kopf. Der Mann legte das Brot auf den Beutel, setzte sich hin und musterte sein Gegenüber. Tobey schätzte ihn auf achtzehn oder zwanzig; der Bart und die unebenmäßigen Zähne machten ihn älter. Sein T-Shirtwar erstaunlich sauber, BARNABY & PHELBS BOOKSHOP LONDON stand in weißer geschwungener Schrift quer über der Brust.
    Sie sahen einander an. Vor der Hütte zirpte ein Insekt, es klang wie eine winzige Trillerpfeife aus Metall, in die ein sanfter Wind blies.
    »Was wollen Sie?«, fragte Tobey so ruhig wie möglich. Schmerzen rannen an der Innenseite seines Schädels hinab, ein Schaudern und Stechen, das ihn blinzeln ließ.
    Der Mann sah ihn unbewegt an. Seine kurzgeschnittenen Haare waren schwarz und glatt. Unter seinem rechten Auge prangte ein dunkles, erbsengroßes Muttermal. Er roch nach Schweiß und Holzrauch.
    »Sprechen Sie Englisch?« Auf den Philippinen sprach fast jeder Einheimische Englisch, einige sehr gut, andere nur ein paar Brocken. In einem Straßenlokal in Manila hatte ein Mann sich neben Tobey gesetzt und als arbeitsloser Lehrer vorgestellt, lächelnd und geschwätzig und zu nervös, um zu merken, dass Tobey in Ruhe gelassen und Zeitung lesen wollte. Tobey hatte dem Mann eine Suppe und einen Fleischspieß bestellt, das Gleiche, was er selber aß. Als der Mann ihm einen Rundgang durch den Stadtteil und den Besuch eines Kinderheims vorschlug, lehnte Tobey mit der Begründung ab, er hätte gleich eine geschäftliche Verabredung. Während der Mann, der mit verzweifelter Redseligkeit kaum die Scham über seinen Hunger zu verbergen vermochte, die Suppe löffelte, ging Tobey ins Lokal, beglich die Rechnung, verschwand durch einen Hinterausgang und ließ sich von einem Taxi zurück ins Hotel fahren.
    »Englisch?«, wiederholte Tobey, aber der Mann starrte ihn nur mit einem Gesichtsausdruck an, der teilnahmslos sein mochte, arrogant oder einfach nur dumm.
    Das Trillern des Insekts wurde lauter und langgezogener. Tobey wollte schreien, diesen stumpfsinnig glotzenden Kerl anbrüllen, aber er hatte keine Luft in den Lungen. Er schloss die Augen. Sein Hinterkopf berührte die Wand, etwas sickerte durch seine Nackenmuskeln, rieselte die Wirbelsäule hinab und löste sich auf.
     
    Tobey öffnete die Augen, blinzelte in die Helligkeit. Seine Beine fühlten sich taub an. Er bewegte die Füße. Erst jetzt merkte er, dass er lag, seine rechte Gesichtshälfte berührte den Boden. Er musste an Spinnen denkenund Skorpione und wollte den Arm ausstrecken und sich aufrichten, aber er schaffte es nicht, weil seine Hände auf den Rücken gefesselt waren. Eine Weile lag er in Seitenlage da und atmete so gleichmäßig wie möglich ein und aus, dann begann er sich von der Wand weg in Richtung Tür zu wälzen. Als er mitten im Raum verschnaufte, sah er ein Stück Fladenbrot, auf dem sich Ameisen tummelten. Er hatte also nicht geträumt, dachte er, den Mann gab es wirklich; er hatte ihm Brot gebracht und Wasser, hatte ihn angestarrt und war wieder gegangen. Und er würde zurückkommen, daran zweifelte Tobey keine Sekunde. Seine Schultern schmerzten so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten, und er blieb eine Zeitlang auf dem Bauch liegen und sah den Ameisen zu, die, eine blassrote Kolonne bildend, Krume für Krume das Brot wegtrugen.
    Megan konnte stundenlang irgendwo sitzen und Tiere beobachten. Einmal verbrachte sie vier Tage vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der Scheune, um nicht zu verpassen, wie die Hühnerküken schlüpften. Sechs Jahre alt war sie da und wusste bereits alles über die Wunder der Natur, wie aus Kaulquappen Frösche und aus Raupen Schmetterlinge wurden, erkannte hoch am Himmel kreisende Greifvögel an ihrer Form und bestimmte Vogeleier anhand von Farbe und Größe. In Einmachgläsern verfolgte sie die Wandlung einer Köcherfliegenlarve
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