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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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ich bei Ihnen.«
    Ich war verwirrt, hatte aber sehr viel zu tun, was mich ablenkte. Eine Viertelstunde später betrat Julie das Büro und begleitete mich in mein Arbeitszimmer.
    »Rabbi, da gibt es etwas, was Sie wissen müssen«, setzte sie an. »Hetty Simmonds war mit Lewis verheiratet. Er arbeitete bei ›Hewletts‹ und starb vor vierundzwanzig Jahren. Die beiden hatten keine Kinder. Hat Ihnen das niemand erzählt?«
    »Nein. Aber was ist, na ja, mit Michael? Mit Rosemary?«
    »Die gab es nur in ihrem Kopf, Rabbi. Nur in ihrer Vorstellung. Sie existieren nicht. Es hat sie nie gegeben. Nur in ihrem Kopf.«
    »Aber was ist mit all den Familienfotos? Da gibt es doch jede Menge davon in ihrem Häuschen!«
    Julie schüttelte den Kopf. »Haben Sie sich die Fotos näher angesehen, Rabbi? Sie sind alle aus Katalogen ausgeschnitten. Es sind Hochglanzbilder. Oh, sie hat sie geliebt. Wann immer ich im Auftrag des Sozialdienstes vorbeikam, musste ich sie mir anschauen, und es war auf den ersten Blick ersichtlich, dass sie aus Zeitschriften und Katalogen stammten. Sie hat wirklich mit ihnen gelebt, wissen Sie - die Bilder wurden im Lauf der Jahre sogar älter. Sie fing mit Babyfotos an, dann kamen die von Kleinkindern, und schließlich ein paar Bilder von den Eltern, na ja, von ihrem Sohn und ihrer Tochter. Alle sorgfältig gerahmt. Hetty erzählte alle möglichen Geschichten über sie, was sie taten, was mit ihnen geschah. Als sie eine Grippe hatte, hatten sie auch Grippe. Wenn sie Urlaub machte, waren sie auch im Urlaub. Ich sage Ihnen, sie hat in den letzten zwanzig Jahren in einer Traumwelt gelebt. Nur sie und diese Bilder.«
    Ich war bestürzt, erinnerte mich an das Kaminsims, an den Tisch im Erker. »Rosemary, Michael, Samantha und die anderen?«
    »Alle nur ausgedacht, nur Schnittmuster … Aber Hetty war glücklich, und niemand hatte das Herz, ihr zu widersprechen. Warum auch? Sie brauchte eine Familie, und so war sie beschäftigt. Sie hatte ja jetzt eine. Im Kopf. Aber machen Sie sich keine Illusionen, Rabbi, nein, ich glaube nicht, dass sie zur Beerdigung kommen werden.«
    Julie hatte natürlich recht. Es kamen nur ein paar ältere Leute und ein Ehepaar aus der Nachbarschaft zum Friedhof. Keine Kinder, keine Enkelkinder. Gott sei Dank hatte Julie rechtzeitig das Geheimnis gelüftet, sonst hätte ich mich zum Narren gemacht, wenn ich über ihre liebevolle Familie gesprochen hätte. Meine Kartei nützte mir diesmal nichts. Ich hatte das Gefühl, dass alle Bescheid gewusst hatten, alle außer mir.
     
     
    Übrigens hatte die Geschichte noch eine seltsame Fortsetzung. Als Hettys Testament eröffnet wurde, hatte sie genaue Anweisungen für ihren Grabstein hinterlassen. Sie waren sehr genau, sehr klar, sehr praktisch und sehr entschieden. Hettys Rechtsanwalt, der Testamentsverwalter, kam eines Tages mit den Dokumenten bei mir vorbei und fragte mich um Rat.
    »Was sollen wir tun?«, sagte er ratlos und legte ein Blatt vor mich auf den Tisch. Ich nahm es hoch und überflog es.
    »Ich verfüge hiermit, dass folgende Inschrift auf meinem Grabstein angebracht wird:
    Heather Simmonds. Mutter und Großmutter. Von Herzen vermisst von ihren liebenden Kindern Michael und Rosemary und von ihren Enkelkindern Geraldine, Robert, Samantha und Edward.«
     
     
    Ich dachte eine Minute darüber nach, dann sagte ich: »Warum nicht? Es ist Hettys Wille und ihr Testament. Für sie haben diese Familienmitglieder existiert, also warum nicht? Soll sie die Namen auf ihren Grabstein bekommen.«
    Und so geschah es. Eines Tages mag die Inschrift vielleicht irgendeinem Amateurgenealogen Rätsel aufgeben - aber da liegt Hetty bis heute, auf dem Synagogenfriedhof, eine der stolzesten Großmütter, die ich je getroffen habe.

Freiheit

    Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass der Tag wahrscheinlich vergeudet sein wird. Da hat man eine Aufgabe, man erfüllt sie, aber eigentlich sieht man nicht ein, wozu. Genau so fühlte sich jener Tag an. Es habe jemand aus dem Gefängnis von Peckthorpe angerufen, sagte Geraldine, im Auftrag des Kaplans. Ein Gefangener wolle einen Rabbi sprechen. Dringend. Nein, er sei in den Gefängnisakten nicht als jüdisch geführt, aber der Bursche bestehe nun einmal darauf. Ob ich vielleicht vorbeikommen könne?
    Peckthorpe. Ein Hochsicherheitsgefängnis. Dort war ich noch nie gewesen. Gott sei Dank. Es war noch nie notwendig gewesen. Es war einer der Orte, wo die richtig schweren Jungs weggesperrt wurden - große
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