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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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klammerten sich um des lieben Lebens willen an durchlöcherte Aluminiumhüllen Tausende von Metern über der Erde. Die Folgejahre verbrachten sie damit, das wieder aufzubauen, was innerhalb weniger Stunden zerstört worden war - das, was sich wieder aufbauen ließ zumindest: die Brücken und Stadtzentren. Die Beziehungen und die zerstörten Biografien ließen sich nicht retten. Den meisten gelang es, neu anzufangen, wieder zu heiraten und neue Familien zu gründen, neue Freunde zu finden, Geschäfte aufzubauen, ihre Ausbildung zu beginnen oder zu beenden, neue Sprachen zu lernen, anständige Bürger zu werden. Die Hälfte meiner Gemeinde hat es geschafft. Deshalb braucht mir niemand mit einem gewalttätigen Vater oder einer geschiedenen Mutter als Entschuldigung für Versäumnisse zu kommen, so schlimm das auch sein mag … Es gibt eine Wahl, sagt das Judentum, und Gefängnisse sind für Menschen, die die falsche Wahl getroffen haben und erwischt wurden. Und jene von uns, die nicht - oder noch nicht - erwischt wurden, sollten das zumindest anerkennen. Natürlich fühle ich mit den Typen, die fünf Jahre oder länger eingesperrt werden. Natürlich habe ich Mitleid mit denen, die andere Gefangene fürchten - aber ich fühle noch mehr mit jenen, die zu dem stehen, was sie getan haben, die es nicht leugnen und sich nicht hinter dem verstecken, was sie für meine Schwäche halten (schließlich bin ich ein Mann Gottes und deshalb per definitionem naiv, leichtgläubig).
    Diesmal war es jedoch anders. Das war der zweite Schock. Der erste war zu sehen, wie hochsicher so ein Hochsicherheitsgefängnis tatsächlich war. Der Mann war in einem Block innerhalb eines Blocks untergebracht. Man kam nur über einen separaten Korridor mit einem separaten Eingang zu ihm. Die Zelle lag hinter dickem Glas. Ich musste durch ein quäkendes Mikrofon sprechen und meine Papiere durch einen Schlitz schieben. Und das, obwohl die Wachmänner den Kaplan, der mich begleitete und eigene Schlüssel zu der Zelle hatte, offensichtlich kannten.
    Der Kaplan erzählte mir das wenige, was er wusste. Michael hatte »lebenslänglich«. Und keine Aussicht auf Strafminderung oder auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Er hatte einige Jungen missbraucht und anschließend erdrosselt. Vier Morde konnten ihm nachgewiesen werden, wahrscheinlich waren es aber mehr. Damit hatte Michael seinen Ruf weg - einem Sexualverbrecher geht es im Gefängnis immer schlecht, und einem, der etwas mit Kindern angestellt hat, erst recht. Michael war also gleich mit einem doppelten Makel behaftet. Das ist eine seltsame Form der »Ganovenehre«, aber sie ist existent und dokumentiert. Das Innenministerium hat diesbezüglich bestimmte Vorschriften, und viele Gefangene sind nur deshalb in Einzelhaft, damit sie vor ihren Mitgefangenen sicher sind. Das heißt aber noch lange nicht, dass es den anderen Häftlingen nicht doch ab und an gelingt, ihm eine Rasierklinge ins Essen zu schmuggeln oder ihm eine Todesdrohung zukommen zu lassen.
    Michael war ruhig. Ohne innere Kämpfe. Er las viel - der Kaplan brachte ihm einmal in der Woche Bücher, die er spontan ausgewählt hatte, sodass die Chance, dass jemand eine Botschaft hineinschmuggelte, gering war. Diese Lektion habe er erst lernen müssen, erzählte der Kaplan. Einmal habe er aus Versehen ein paar philosophische Bücher für Michael liegen lassen, während er noch etwas erledigen musste. Die Häftlinge, die in der Bibliothek arbeiteten, mussten gewusst haben, wohin er als Nächstes gehen würde … Als er zurückkam, roch er, dass etwas faul war. Er klappte die Bücher auf, fand Exkremente zwischen den Blättern, gekritzelte Drohungen, dass sie ihn kastrieren würden und Schlimmeres. Natürlich wollte keiner der Bibliothekare etwas gesehen haben. Der Kaplan hatte sich beim Gefängnisdirektor beschwert und gefordert, dass diese Leute aus der Bibliothek entfernt würden. Der Direktor hatte das jedoch abgelehnt. Er hatte gesagt, dass die Situation nur noch weiter eskalieren würde, falls er eingriffe. Seither ging der Kaplan direkt in die Bibliothek, nahm ein paar Bücher von da und von dort, Romane, Geschichtsbücher - irgendetwas - und weigerte sich, sie eintragen zu lassen.
    Das alles erfuhr ich von ihm, während wir zusammen durch den äußeren Hof gingen und neun- oder zehnmal anhalten mussten, um Gittertüren öffnen und schließen zu lassen. Und dann, im absoluten Hochsicherheitstrakt, stellte mich der Kaplan dem Wachmann in seinem
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