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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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kleinen Kontrollraum vor und ging wieder. Ich würde mit Michael allein sein. Wir hatten nicht mehr als eine halbe Stunde.
    Oder auch nicht. Der Wachmann, ein großer Kerl mit einem roten Bart, kam aus seinem Kabuff, führte mich an einer Reihe von Türen vorbei und öffnete rasselnd die vorletzte.
    Michael saß zusammengekauert auf dem Bett, groß, dünn, dunkelhaarig, mit tief liegenden Augen und dünnen Lippen.
    »Ich bleibe hier, Pater«, sagte der Wachmann, »und die Tür bleibt offen. Vorschrift.«
    Ich war nicht etwa ärgerlich, dass eine private Unterhaltung gestört oder ein Beratungsgespräch abgehört wurde. Im Gegenteil, ich war erleichtert.
    Und der zweite Schock - ich sagte es bereits - war, dass Michael sofort zugab, was er getan hatte. In knappen Worten. Er stand vom Bett auf, schüttelte mir die Hand, deutete auf den Stuhl am Tisch, setzte sich wieder hin, und sagte: »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, ich bin schon lange hier und werde wohl auch noch lange hier sein. Wegen dem, was ich getan habe. Mord.«
    Dieses freimütige Geständnis gab den Rahmen für die Diskussion vor. Ich räusperte mich also und sagte: »Ja, das habe ich gehört. Aber warum wollten Sie mich sehen? Und nebenbei, waren Sie Mitglied einer jüdischen Gemeinde? Gibt es einen anderen Rabbi, den ich kontaktieren könnte?« Normalerweise ist das eine gute Methode, um herauszufinden, ob das Gegenüber wirklich Jude ist: Ich frage, ob der andere vielleicht den Namen seines Rabbiners nennen könnte oder den Ort, wo er Bar-Mizwa geworden ist. Damit verraten sich Betrüger leicht. Und manche, die eine Heimatgemeinde haben - vielleicht eine, wo sie verschwiegen haben, wo sie sind und was sie getan haben - fühlen sich plötzlich wieder zugehörig zu ihren Gemeindemitgliedern und geben mir eine Nachricht zum Weiterleiten mit.
    »Nun, ich bin nicht richtig jüdisch«, antwortete er. »Mein Großvater war Jude, aber ich habe ihn kaum gekannt. Deshalb habe ich nach einem Rabbi gefragt. Sehen Sie, ich habe einige Fragen, und der Pater hier kann mir nicht helfen. Es geht nämlich um die Kabbala.«
    Oh nein. Innerlich rollte ich die Augen. Nicht schon wieder, Keine Kabbala. Jeder Hinz und Kunz, jeder billige Gauner der es mit der mystischen Masche versucht, jeder Fälscher und Betrüger mit einem Hut und einem Bart, jedes zweitrangige Sternchen - alle scheinen sie zu denken, dass die Kabbala eine Antwort auf ihre Probleme bereithält. Und alle glauben sie, dass ich alles darüber weiß. Aber das tue ich nicht, und ich interessiere mich auch nicht dafür. Der Talmud lehrt uns, dass sich keiner in die Mystik vertiefen soll, bevor er nicht vierzig ist und verheiratet und zwei Kinder hat - jeder sollte erst einmal fest auf der Erde stehen, bevor er seinen Kopf durch die Wolken wandern lässt. Der Talmud warnt uns vor den Gefahren, die sogar weisen und erfahrenen Rabbinern begegnen können, wenn sie sich mit Mystik beschäftigen. Kabbala ist einfach nicht mein Bier. Außerdem habe ich genug andere Probleme, mit denen ich mich beschäftigen muss.
    Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Predigt über die Gefahren der Mystik. Jedenfalls noch nicht. Alles hing davon ab, was genau Michael mich fragen wollte. Immerhin hatten wir bereits erfolgreich geklärt, dass er weder eine hebräische Bibel von mir wollte noch ein Gebetbuch, auch keine koschere Wurst oder dass ich seiner Frau eine Nachricht überbrachte. Solch ein Besuch würde das heute nicht werden. Deshalb bat ich ihn, mir mehr zu sagen.
    Er gehe »auf Reisen«, sagte er. Es handelte sich dabei um kosmische oder astrale Projektionen. Er könne in seiner Einzelzelle sitzen und wegfliegen. Im Kopf. Nach draußen. Er könne in die Welt gehen, beobachten, was dort vorging, die Menschen sehen - auf der Straße, in Geschäften, in ihren Wohnungen.
    Ich studierte sein Gesicht. Er schaute mich nicht direkt an, sondern blickte auf seine Knie, seine Hände, die Wand hinter mir. Michael schien zu glühen, als er beschrieb, wie er es anstellte. Wie er sich konzentrierte und flog. Dabei ließ er natürlich seinen Körper zurück und kehrte erst wieder, wenn er ihn brauchte. War er wahnsinnig? Nun, so sah es aus. Und doch war es eine seltsame, intensive Form des Wahnsinns. Streng, ohne Gebrabbel, ohne Wiederholungen.
    Ich betrachtete seine Hände und stellte mir vor, wie sie die Jungen gepackt hatten. Ich betrachtete seine Knie und stellte mir vor, wie er kniete, als er diese Jungen
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