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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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vergewaltigte, schaute auf seine Arme, die sie gehalten hatten, während sie sich wehrten. Eine Hand lag auf ihrem Mund, die andere drückte zu. Michael hatte kräftige Hände. Seine Arme waren sehnig, aber muskulös unter dem dünnen Gefangenenhemd. Ich hörte zu und hörte zugleich nicht zu, meine Gedanken waren beinahe so flatterhaft, wie er sich auf seinen Ausflügen beschrieb. Mir war kalt.
    Ich kam wieder zu mir, als er mir eine bestimmte Frage stellte. Verschiedene Fragen. Waren solche Seelenflüge in der Kabbala erwähnt? Gab es da etwas, was er wissen sollte, etwas, was er beachten müsse? Schließlich hatte er sich alles allein in der Zelle beigebracht. Und dann habe er gedacht, vielleicht gebe es ja ein Codewort oder etwas, was es ihm leichter machen würde? Oder einen Weg ins Paradies?
    Ich suchte krampfhaft nach einer Antwort. Nein, von so etwas wusste ich nichts. Nein, ich war kein Fachmann für die Kabbala, und nein, wir Rabbiner lernten das nicht, wir trugen nicht den Schlüssel zum Paradies am Gürtel. Ich tat so etwas nicht. Man brauchte dafür Zeit und Übung.
    Zeit, sagte Michael, sei nicht das Problem. Es war die Übung, die er verbessern wollte.
    Ich konnte ihm nicht helfen und sagte das auch. Er müsse einfach so weitermachen, schlug ich vor in der Hoffnung, das höre sich nicht allzu dumm an. Das tat es offenbar nicht. Michael empfand meine Antwort jedenfalls nicht als Problem. Am Vorabend sei er zu einem Konzert geflogen, habe sich einen Platz ganz hinten gesucht und die Musik genossen. Ein Klavierkonzert von Mozart, eine Symphonie von Schumann. Heute, so glaubte er, habe er Lust, auf Kino.
    Ich wünschte ihm einen angenehmen Abend.
    Michael versicherte mir in ernstem Ton, er werde sich bemühen.
    Ich entschuldigte mich, dass ich ihm nicht weiterhelfen konnte, und fragte mich im selben Moment verwundert, warum ich mich eigentlich entschuldigte, wo er mich doch dazu gezwungen hatte, den langen Weg hierherzufahren, um mir diese bizarre Geschichte anzuhören.
    Der Wärter klopfte an die Metalltür. Die halbe Stunde sei zu Ende, sagte er. Die Zeit war - nun ja - wie im Flug vergangen. Ich war erleichtert. »Ich muss jetzt gehen«, sagte ich, »tut mir leid.«
    »Schon in Ordnung«, sagte Michael. »Ich probiere einfach so weiter. Machen Sie sich keine Sorgen, ich komme zurecht. Ich bin frei, verstehen Sie? Sogar hier bin ich frei.«
    Und damit machte ich mich auf den Rückweg, ging den langen Weg durch die endlosen Tore und über die Höfe zum Haupthaus, durch endlose Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, bekam meine Ausweispapiere und meine Sachen zurück und betrat endlich wieder die Außenwelt, wo es Luft gab, die nicht nach Desinfektionsmittel und kaltem Rauch und Schweiß roch.
    Es war in vielerlei Hinsicht eine vergeudete Fahrt. Ein vergeudeter Tag. Das Benzin würde mir niemand erstatten. Bald war Pessach, und wir mussten noch viel vorbereiten. Pessach - unser Fest der Freiheit. Wir feiern die Befreiung aus den ägyptischen Gefängnissen. Und ich war da, noch immer ein Sklave meines Terminkalenders, meines Gewissens, meiner Pflichten, meines Arbeitgebers, meiner Hypothek. Aber Michael in seiner Zelle, er war eingesperrt in einer Kiste in einer Kiste in einer Kiste, wie das Allerheiligste im antiken Tempel - und doch war er frei. Frei zu fliegen, wohin er wollte. Frei zurückzukommen, wann er wollte. Frei, die Welt zu erforschen - zumindest eine Welt. Vielleicht meine Welt, vielleicht nur seine eigene.
    An Pessach danken wir Gott dafür, dass er uns aus dem ägyptischen Gefängnis befreit hat. Hier, in Peckthorpe, hatte Michael es geschafft, sich selbst zu befreien. Frei zu werden. Die Fesseln abzuwerfen. Und bei unserem Abschied, als die Metalltür zwischen uns geschlossen wurde, hatte er gesagt: »Danke, dass Sie gekommen sind, Rabbi. Vielleicht werde ich Sie ja mal besuchen.«

Der Bar Mizwa-Junge

    Der alte Mr Piotrwicz war sozusagen ein Fremder in der Gemeinde. Er war schon seit vielen Jahren Mitglied, war es schon lange vor meiner Zeit gewesen, aber er war einer von den Leuten, die nur ein Name auf der Mitgliederliste sind. Solche gibt es viele bei uns, wie in den meisten Gemeinden. Das sind besonders Leute, die außerhalb der Stadt wohnen. Eines schönen Tages richtete meine Sekretärin mir jedoch aus, dass er sich über einen Besuch freuen würde. Das nahm ich als Anlass, zu ihm zu fahren - gute zwanzig Meilen entfernt, in den Hügeln.
    Es war eine hübsche Fahrt, obwohl das
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