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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Ziel ein hässliches, heruntergekommenes Dorf war, das man einst um ein Kohlebergwerk herum erbaut hatte. »Der alte Mr Piotrwicz« (seltsam, so wurde er sogar bei Gemeindeversammlungen genannt) erwartete mich mit Tee und Keksen, die er auf einem alten Porzellanservice reichte. Er war weißhaarig und hinkte.
    »Ich bin der Rabbi«, sagte ich zur Begrüßung. »Wir kennen uns noch nicht.«
    »Ja, das stimmt - ich komme nicht zur schul«, sagte er. »Aber ich habe eine Frage an Sie.«
    »Schießen Sie los.«
    »Nun, ich habe nie Bar Mizwa gefeiert«, sagte er. »Irgendwo habe ich aber gehört, dass man sie auch später machen kann, wenn man will. Stimmt das?«
    »Ja, natürlich«, sagte ich, plötzlich begeistert. »Ich meine, streng genommen waren Sie ganz automatisch ein Bar Mizwa, als Sie in dem entsprechenden Alter waren - ganz egal, ob sie den Aufruf zur Tora feierlich begangen haben oder nicht. Das können Sie jedoch zu jedem beliebigen Zeitpunkt nachholen.«
    »Es freut mich, das zu hören«, sagte er. »Ich glaube, das möchte ich machen.«
    »Nun, dann müssen wir einen guten Zeitpunkt und eine passende Bibelstelle finden. Ich kann gerne die Segenssprüche mit ihnen durchgehen.«
    »Das ist nicht nötig«, sagte Mr Piotrwicz. »Ich habe sie alle gelernt, ich weiß, was ich wann sagen muss.«
    Ich drückte mein höfliches Erstaunen aus. Schließlich hatte ich ihn noch nie in den Gottesdiensten gesehen.
    »Es ist so«, sagte er und lehnte sich in einem schäbigen Sessel zurück. »Ich bin schon sehr lange hier. Ich bin 1946 nach England gekommen und habe mich hier niedergelassen, ich habe im Bergwerk gearbeitet, bis es geschlossen wurde - Sie haben ja gesehen, dass meine Beine nicht in Ordnung sind, das war ein Grubenunglück. Und als dann das gesamte Bergwerk geschlossen wurde, sah ich keinen Grund umzuziehen. Ich habe ja keine Familie, weder hier noch sonst irgendwo. Da kann ich genauso gut bleiben, wo ich bin, habe ich mir überlegt. Ich bin der Gemeinde vor vielen Jahren beigetreten, wissen Sie, und das Seltsame ist, dass ich mich nicht erinnern kann, warum. Aber den Gemeindebrief, den ich bekomme, lese ich immer, von vorne bis hinten. Jetzt, schätze ich, ist es an der Zeit, etwas zu tun, das schon eine ganze Weile wartet.«
    »Nun, wenn ich irgendwie helfen kann …«, bot ich an, aber er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen.
    »Da gibt es nicht viel, wobei Sie helfen können, schätze ich, aber vielen Dank für das Angebot. Vielleicht sollte ich Ihnen aber ein bisschen mehr erzählen. Sonst können Sie mich nicht verstehen. Ich wünsche mir nichts mehr als die Bar Mizwa. Ich bin übrigens kein großer Gläubiger und hatte in den letzten Jahren keine besondere Sehnsucht nach Religion. Aber ich war nicht immer so. Und nun, da ich irgendwie zu meinen Wurzeln zurückkehre, da ich mich bereitmache heimzugehen, wenn Sie so wollen, gibt es etwas, das mich sehr bedrückt. Und das will ich erledigen. Ich habe noch nie darüber gesprochen. Zu keinem Menschen. Aber jetzt - jetzt ist die Zeit gekommen.
    Seit wer weiß wie vielen Jahren habe ich immer ein jorzajt- Gebet gesprochen. Immer. Hier, ganz alleine. Ich zünde eine Kerze an. Ich mache das immer am schabbes sochor. Das war der Tag, an dem mein schtetl zerstört wurde. Damals, daheim. Deshalb brauchte ich auch das Gemeindeblatt, um zu wissen, auf welches Datum der schabbes sochor in jedem Jahr fiel.«
    Es war eine seltsame Vorstellung, dass dieser verlorene polnische Jude in einem Bergarbeiterdorf in Yorkshire eine Kerze für sein verlorenes schtetl anzündete.
    »Das war der Tag, an dem die Deutschen kamen. Es war am Morgen. Wir waren alle in der Synagoge - wir hatten gerade das Morgengebet begonnen, als wir die Panzer kommen hörten. Mein Vater flüsterte mir zu, dass ich zur Tür gehen und nach Hause laufen solle. Ich fragte ihn, warum. Er sagte, dass er so ein Gefühl hätte, ein schlimmes Gefühl, und dass ich jetzt gehen müsse. Ich ging durch eine Seitentür hinaus zum Abtritt im Hof. Auf der Straße standen schon die Lastwagen und Soldaten. Ich konnte ihre Helme sehen, die über die alte Backsteinmauer ragten. Es war ein schöner Frühlingstag, kurz vor Purim. Wir waren zwar vorgewarnt, dass die Deutschen kommen würden, aber trotzdem überraschte es uns alle, als sie dann einmarschierten.«
    Er machte eine Pause und starrte in seine Tasse. Rührte langsam darin herum. Gegen den Uhrzeigersinn. Seltsam, welche Details man sich merkt.
    »Dann
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