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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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bezahlte er manchmal an die Armee, manchmal an die
Tigers
Wegegeld.
    Aber nicht nur der Krieg schien in diesen feuchtheißen Weihnachtstagen über alle bisherigen Grenzen hinwegzuschlagen, sondern auch das Wasser, die Flut: Ein Nordostmonsun, wie er seit sieben Jahren – Fischer an der Arugam Bay behaupteten: seit zehn! – nicht mehr gewütet hatte, verwüstete nach dem nördlichen Hochland nun auch weite Küstenstriche im Osten. Wolkenbrüche, Sturmfluten, Dammbrüche: Mehr als siebzigtausend Obdachlose waren in den letzten Tagen gezählt worden und zweiundzwanzig geborstene Dämme, darunter auch einige jahrhundertealte Deiche der künstlichen Seen singhalesischer Könige. Viele Tote, hieß es, würden noch im Schlamm begraben liegen.
    Das Rauschen des Regens, das auch jetzt, nach einer kaum halbstündigen Unterbrechung, wieder durch das Blattwerk unseres Verstecks am Seeufer drang, war allgegenwärtig. Entlang überfluteter Straßen standen Flamingos in rosafarbenen Paraden, Schlangen suchten Zuflucht in den Häusern, und wenn der Regen manchmal nachließ und eine fahle Sonne in Wolkengebirgen erschien, lagen Krokodile wie gestrandete Einbäume auf Dammkronen, die der Flut bisher standgehalten hatten. Unter Betten und Hängematten rannten Ameisenprozessionen in wirren Strömen dahin, um zu retten, was zu retten war.
    Auf der Fahrt von Colombo in das Gebiet von Lahugala und Pothuvil hatten uns triefende Soldaten in Kampfanzügen an zahllosen mit Tarnnetzen verhängten Kontrollposten erwartet und uns mit erhobenen Armen in Wolkenbrüchen warten lassen, während sie unsere Dokumente in ihren Unterständen prüften und Horden von Hulman-Affen, Inkarnationen des Gottes Hanuman, uns aus den Kronen der Bäume verfluchten. Wir sahen Hunderte Palmen, unter der Wucht von Granateinschlägen geknickt, verkohlte, gekrümmte Baumstümpfe wie Krallen im Brandungsstaub des Indischen Ozeans. Vielen Buddhastatuen entlang unserer Route hatten hinduistische Tamilen Köpfe und Arme abgeschlagen. In ausgebrannten Schützenpanzern und Truppentransportern am Straßenrand kreischten zornige Vögel.
    Still, still! Der Regen hatte so plötzlich, wie er eingesetzt hatte, wieder aufgehört und ließ das Gekicher der Kinder mit einemmal unüberhörbar laut werden. Aber der Elefantenbulle schien so gefangen in seiner Erregung, daß er neben den Kühen nichts wahrzunehmen schien von der Welt. Was aber würde geschehen, wenn er in einem einzigen wachen Augenblick die Störenfriede im Busch entdeckte?
    Still! Die Kinder verhielten sich, als wären sie tatsächlich unsichtbar. Ich dagegen hatte das Gefühl, ohne jede Deckung auf freiem Feld zu stehen. Auf dem Weg von Colombo in den Osten hatte ich gesehen, wie ein Bulle, größer als dieser hier, seine Ohren plötzlich rechtwinkelig von seinem Schädel wegklappte, um dann wütend loszustampfen gegen unseren Jeep, der ihm über eine von der Flut bedrohte Holzbrücke zu nahe gekommen war. Unser Fahrer hatte im Rückwärtsgang zu entkommen versucht, weil zum Wenden keine Zeit und kein Platz mehr war. Hätte der Bulle tatsächlich mehr gewollt, als uns bloß in die Flucht zu schlagen – er hätte uns auf der morastigen Straße schnell eingeholt, aber so war er nach kaum zweihundert Metern wieder langsamer geworden und schließlich stehengeblieben und sah uns nur so lange nach wie nötig, um sicherzugehen, daß wir auch tatsächlich verschwanden.
    Still! Ich zog ein rotes Seidentüchlein aus der Tasche, und die Kinder wurden augenblicklich still. Die Zauberei. Ich hatte dieses rote, hauchdünne Tuch auf Reisen immer bei mir und verwendete es manchmal, wenn es darum ging, die Aufmerksamkeit von Kindern zu gewinnen. Denn hatte einer die Kinder eines Dorfes auf seiner Seite, lächelten ihm auch die Erwachsenen zu. Das Seidentuch gehörte zur Ausstattung eines billigen, aber wirkungsvollen Tricks, den ich in einem Wiener Spielwarenladen gekauft hatte und mit dem ein Tüchlein in der geballten Faust zum spurlosen Verschwinden – und nach dem Öffnen der Faust und dem Vorzeigen leerer, vollkommen leerer Hände –, daraus aber auch wieder zum Erscheinen gebracht werden konnte.
    Ich hatte meinem kindlichen Publikum diesen Zauber bereits vor unserem gemeinsamen Aufbruch zum Elefantensee zu seinem größten Vergnügen wiederholt vorgeführt und wurde jetzt schon für das bloße Zeichen, das Seidentuch noch einmal verschwinden und wieder erscheinen zu lassen, mit plötzlicher Stille belohnt.
    Aber als ich
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