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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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beschäftigt, ein Totenhaus zu vermessen und zu zeichnen. Er war erleichtert, mich endlich zu sehen. Noch eine Stunde, und er hätte sich auf die Suche gemacht. Die Nacht würde klar und kälter werden als die vergangene.
    Von den Kegeldächern der Tschorten waren lange Wimpelgirlanden wie Zeltschnüre ins Eis gespannt, Hunderte, mit Gebeten und Mantras, den Namen des Ziels und Endes aller Welt, beschriebene Fähnchen, die hartgefroren im Wind schlugen. Und dann die Rauchfahnen über den Flachdächern des Dorfes: Es war Schnee. Rieselnder, kristallfeiner Schnee, der in Schleiern von den Dächern wehte wie Rauch. Die Häuser waren kalt und verschlossen. Keine Menschen. Keine Zuflucht. Das Dorf war verlassen.
    Nur eine einzige von den Türen, die wir zu öffnen versuchten, war unversperrt. Sie führte in einen fensterlosen Raum, in dem eine Gebetsmühle von der Größe einer Litfaßsäule, die von Pilgern und Mönchen wohl bis in alle Ewigkeit hätte gedreht werden sollen, stillstand.
    Wir hatten uns schon entschlossen, die Nacht auf dem gestampften Lehmboden dieses Raumes zu verbringen, und begonnen, Zweige für ein Kochfeuer von einer Tränenkiefer zu brechen, die unter der Schneelast geborsten war, als wir an einem Felshang hoch über dem Seeufer das Portal der Höhle entdeckten. Aber diesmal zeigte ein Blick durch das Fernglas, daß, was aus diesem schwarzen Maul dort oben verwehte, nicht bloß Eiskristallschleier waren, sondern tatsächlich Rauch.
    Ich war nach den langen Stunden des Aufstieg so müde, daß mein Freund mich überreden mußte, unser Nachtlager an der Gebetsmühle wieder aufzugeben und nun auch noch diesen Steilhang, der keine Spuren trug, hochzusteigen.
    Von der Sonne war nur noch ein rötlicher Widerschein über den höchsten Bergkämmen zu sehen, als ich auf halber Höhe des Hanges nahe daran war, in meiner schweißnassen Kleidung unter dem drückenden Gewicht meines Rucksacks in den Schnee zu sinken, zu bleiben, wo ich war, und auf die Rückkehr meines Freundes zu warten: Immer neue, aus dem Dorf am Seeufer nicht sichtbare Felsstufen versperrten den Weg und mußten umgangen werden … dann wieder war ein unter Treibschnee verborgenes Eisfeld selbst mit Pickel und Steigeisen nur mühsam zu passieren … Wie ein Gipfel gegen Ende eines alle Kräfte verzehrenden Aufstiegs schien jetzt auch dieser Höhleneingang vor mir in die Unerreichbarkeit zurückzuweichen.
    Seltsam, meinen Freund irgendwann doch hoch über mir vor dem Portal der Höhle zu sehen. Wie klein er vor diesem gähnenden, schwarzen Maul erschien. Er winkte mir zu, aber was er rief, konnte ich in den Windstößen nicht verstehen. Als ich nach einer Anstrengung, die das Blut in meinem Kopf pochen ließ, die Höhle endlich erreichte, saß er bereits bei den Mönchen am Feuer und versuchte, mit einigen Brocken Tibetisch und Nepali Fragen zu stellen.
    Wie lange die drei bereits hier waren? Gab es noch andere Mönche oder Pilger hier oben? Und war der Weg zu den noch höher gelegenen Klöstern von Shey Gompa und Tsakang passierbar? Gab es Menschen, die dort überwinterten?
    Ob die drei die an sie gerichteten Fragen verstanden, war nicht zu erkennen. Sie unterbrachen ihr Gebet nicht und hörten auch dann nicht auf zu flüstern, als sich einer von ihnen erhob und uns gesalzenen Yakbuttertee anbot, getrocknete Wurzeln und Tsampa, geröstetes, grobes Gerstenmehl, das er – flüsternd – mit Butter und Tee zu einem grauen Teig knetete.
    Während wir tranken und aßen, befühlten die drei unsere Daunenjacken, die Schneegamaschen, unsere Handschuhe mit sichtbarer Bewunderung, prüften das Gewicht der Pickel, Steigeisen und Rucksäcke, beteten dabei aber ihre Mantras ohne eine einzige Unterbrechung zähneklappernd weiter.
    Von der Last meines Rucksacks und den Qualen des Aufstiegs endlich befreit, saß ich neben meinem Freund am langsam niederbrennenden Feuer. Zu müde, um meine schweißnasse Kleidung zu wechseln, hatte ich mir meinen Schlafsack als Decke um die Schultern gelegt und ließ mich von der Glut bescheinen.
    Mein Freund hatte längst alle Versuche aufgegeben, Fragen an die Betenden zu richten, und saß schweigend neben mir, starrte wie ich ins Feuer, hörte ihrem Geflüster zu. Darüber begann der vom Höhlenportal eingefaßte Winterhimmel zu erlöschen. Verschneite Gebirgsketten, die sich hier sechstausend Meter und höher über den Spiegel eines unendlich weit entfernten Meeres erhoben, wurden zu schwarzen Mauern, über denen ein
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