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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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Fernstes Land
    Ich sah die Heimat eines Gottes auf 26 ° 28 ´ südlicher Breite und 105 ° 21 ´ westlicher Länge: eine menschenleere, von Seevögeln umschwärmte Felseninsel weit, weit draußen im Pazifik. Mehr als dreitausendzweihundert Kilometer waren es von diesen umbrandeten, baum- und strauchlosen Klippen ohne Süßwasser, ohne Gras, ohne Blütenpflanzen und Moos bis zur chilenischen Küste, von wo mein Schiff vor einer Woche mit Kurs auf Rapa Nui, die Osterinsel, ausgelaufen war.
    An die Reling gelehnt, an der ich mich wegen der hohen Dünung immer wieder mit beiden Händen festhalten mußte, beobachtete ich seit einer Stunde, wie der am Ende kaum dreißig Meter aus dem Wasser ragende Umriß der Insel zwischen Wellenbergen aufgetaucht, wieder versunken und schließlich doch über den Horizont gestiegen war und nun dem Schiff so nahe kam, daß die verwehenden Wasserstaubfahnen der gegen die Felsen donnernden Brecher Bullaugen und Ferngläser beschlugen.   
    Daß dieses unter der Märzsonne glühende, wüste Stück Land überhaupt in Sicht gekommen war, lag an einem Hunderte Seemeilen langen Ausweichmanöver, mit dem der Kapitän die Ausläufer eines riesigen, von Kap Hoorn ausgehenden Sturmtiefs umschiffen wollte. Die Dünung, selbst hier und bei strahlendem Himmel immer noch acht bis zehn Meter hoch, ließ bedrohliche Rückschlüsse auf die Wellenhöhen und Sturzseen in unserem ursprünglichen Fahrwasser zu.
    Der Name
Friedlicher
oder
Stiller Ozean
, hatte der Kapitän seine allmorgendlichen, über Bordlautsprecher bis an festgeschraubte Betten und Frühstückstische übertragenen Durchsagen zu Position, Luftdruck, Seegang und Kurs beendet, sei schon zur Zeit seiner ersten Befahrung durch europäische Seeleute bloß der Name einer vergeblichen Hoffnung gewesen. Der Pazifik, hier im Süden oder Tausende Seemeilen weiter in alle Richtungen der Windrose, sei weder stiller noch friedlicher als andere, auf weniger schöne Namen getaufte Meere und erhebe sich nicht anders als diese unter dem Druck von Stürmen und der Anziehungskraft des Mondes zu Wassergebirgen, die man ohne Not besser nicht durchquerte.
    Aus kartographischer Sicht war die vulkanische Felsformation vor uns nur der kahle, umtoste Gipfel eines dreitausendfünfhundert Meter aus der Tiefsee hochragenden Berges, der auf den Seekarten als
Salas y Gómez
verzeichnet war und so an zwei, am Ende doch vergessene, spanische Kapitäne erinnern sollte – der eine hatte die nur wenige hundert Meter messende Felsformation als erster Europäer gesichtet, der andere hatte sie ein Lebensalter danach betreten und kartographiert.
    Aber die
Rapa Nui
, sagte ein erschreckend dünner Mann, der sich neben mir an der Reling festhielt, jenes rätselhafte Volk, das um den Preis des eigenen Untergangs die Osterinsel mit nahezu tausend Steinstatuen geschmückt hatte, seien schon Jahrhunderte vor diesen vermeintlichen Entdeckern mit Binsenflößen über eine Distanz von fast vierhundert Kilometern immer wieder hierher gesegelt und gerudert und hatten diesem Ort einen schöneren, viel schöneren Namen gegeben:
Manu Motu Motiro Hiva
. Das sei manchmal mit
Vogelinsel auf dem Weg in fernstes Land
,
aber auch mit
Insel auf dem Weg in die Unendlichkeit
übersetzt worden. Denn aus welchen Tiefen der polynesischen Inselwelt die Rapa Nui ursprünglich auch immer gekommen waren, sagte der dünne Mann, am Ende hatte sich in ihren Überlieferungen wohl jede Erinnerung an den Ort ihres Ursprungs und an alles Festland verloren und der Überzeugung Platz gemacht, daß es außer ihnen keine Menschen auf dieser Welt gab und in einem unendlichen Ozean unter einem unendlichen Himmel kein Land neben ihrer eigenen Insel.
    Ich hatte Mühe, den dünnen Mann zu verstehen. Nicht allein wegen des Tosens von Wasser und Wind oder weil jene seltsame Mischung aus Englisch und Spanisch, die er sprach, immer auch Worte aus einer oder mehreren Sprachen enthielt, die ich noch nie gehört hatte, sondern vor allem, weil auch jetzt und wie schon bei unseren Begegnungen in den vergangenen Tagen, stets in der Schwebe blieb, ob er mit mir oder bloß mit sich selber sprach – über die Reling hinweg aufs Meer.
    Was für ein Schock mußte es gewesen sein, sagte er, als die Rapa Nui auf einem ihrer ausgedehnten Fischzüge, vielleicht auch bloß nach einer durch Strömungen und Stürme erzwungenen Irrfahrt, auf diese Vogelinsel gestoßen waren. Ein Schock, der sie am Ende glauben ließ, die Heimat eines Gottes
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